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Die Künste in den Zeiten des Umbruchs
Vom Überleben der Kultur in gesellschaftlichen Turbulenzen
Geschichte, Identität, Macht, Sprache, Tradition
Die Künste in Zentralasien haben auf den Wegfall der sowjetischen Zentralverwaltung ganz unterschiedlich reagiert. Während die traditionelle Musik eine Renaissance erlebt, befindet sich die Literatur in einer schwierigen Lage. Und die Bildende Kunst erlebt lediglich im ölreichen Kasachstan eine kleine Blütezeit.
Von Birgit Brauer


Als sich Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbaev 1993 auf Staatsbesuch in Washington befand, überraschte er seine amerikanischen Gastgeber mit einem musikalischen Ständchen, vorgetragen zusammen mit seiner Frau Sara und seiner ältesten Tochter Dariga. Wenige Jahre später, bei der live im Fernsehen übertragenen Feier anlässlich der Verlegung der kasachischen Hauptstadt von Almaty nach Astana 1998, ergriff der Präsident erneut beherzt das Mikrofon, um Arm in Arm zusammen mit seinem Kollegen, dem ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma, Volkslieder zu singen.
Oberflächlich betrachtet könnte man die Gesangseinlagen des Präsidenten lediglich als ein Zeichen seiner Musikalität werten. Doch sind sie in der Tat ein Ausdruck für den Stellenwert, den Musik und Gesang in der Region haben. Ob bei festlichen Anlässen oder einem gemütlichen Beisammensein mit Freunden, es ist Brauch, dass sich mindestens einer findet, der – ähnlich wie in alten Hollywood-Musicals – von einem Moment auf den anderen ein Lied anstimmt. Im Fernsehen läuft stets irgendwo ein musikalisches Programm, Gesangswettbewerbe sind äußerst beliebt. Es gibt eine breite Palette an verschiedenen Musikstilen, darunter auch die Verbindung klassischer zentralasiatischer Instrumente mit denen der modernen Musik. Die Usbekin Yulduz Usmanova hat mit eben dieser Mischung fast schon den Status einer Kultfigur erlangt.


Umbruch mit Folgen

Zentralasien ist auch eine Region, in der die Familienbande fest geknüpft sind und jeder seinen bestimmten Platz hat. Dieser Platz oder Rang ist abhängig von der als selbstverständlich empfundenen natürlichen Ordnung der Dinge: ob man ältestes oder jüngstes Kind in der Familie ist, Mann oder Frau, kinderreich oder kinderlos. Betagten Menschen wird überall sehr hohe Wertschätzung entgegengebracht. Auch im modernen Kasachstan und Kirgisistan spielen daher die Aksakale, die "weißbärtigen" Männer, die früher in den Dörfern alle wesentlichen Entscheidungen trafen, nach wie vor eine Rolle – wenn auch nur noch eine untergeordnete.
Aufgrund der über 70 Jahre dauernden Sowjetherrschaft haben alle der fünf jetzt unabhängigen Republiken dieselbe Erfahrung als von Moskau regierte Kolonien machen müssen. Die Region, die einst ausschließlich von Ackerbau, Viehzucht und Handel lebte, erfuhr durch Industrialisierung enorme Fortschritte. Der Analphabetismus wurde überwunden und die Stellung der Frau verbessert. Andererseits hatte die kommunistische Ideologie unter anderem die "Ausmerzung" der nationalen Differenzen der Sowjetvölker zum Ziel, und die zentralasiatischen Kulturen galten ohnehin als zweitklassig. Das Russische wurde zur dominanten Sprache und drängte die Sprachen der Region an den Rand. Umsiedlung und rasante wirtschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg taten ein Übriges, einen weiteren Massenzuzug, insbesondere von Russen und Ukrainern, zu fördern. Die Schulen vermittelten den Kindern hauptsächlich die russische Kultur. Bis heute kann daher etwa die Hälfte der Kasachen kein Kasachisch.
Seit der Unabhängigkeit hat sich dieser Prozess umgekehrt. Wirtschaftliche Probleme und zunehmender Nationalismus führten dazu, dass ein Teil der Zugezogenen nach mehreren Jahrzehnten wieder in die ursprüngliche Heimat zurückkehrte. Aus Kasachstan, das von der Völkerwanderung am meisten betroffen war, wanderten über zwei Millionen Russen, Ukrainer und Weißrussen sowie 700.000 Deutsche ab. Wie man aus der veränderten Situation aber auch Vorteile ziehen kann, hat der Bürgermeister von Almaty, Viktor Chrapunov, ein Russe, unter Beweis gestellt. Er lässt bei seinen Auftritten in der Öffentlichkeit stets ein paar Sätze auf Kasachisch einfließen – wofür ihm die Herzen seiner Mitbürger im wahrsten Sinne des Wortes zugeflogen sind.


Das neue Leben der Literatur

Der wirtschaftliche Kollaps, die hohe Arbeitslosigkeit und Inflation brachten das gesellschaftliche und kulturelle Leben in Zentralasien zunächst praktisch zum Stillstand. In keiner der Republiken war der Staat mehr in der Lage, regelmäßig Gehälter und Renten zu zahlen, Krankenhäuser und Schulen zu finanzieren, geschweige denn die kulturellen Einrichtungen wie gehabt mit staatlichen Fördergeldern zu unterstützen. Die vormals staatlichen Verlage konnten es sich aufgrund der mangelnden finanziellen Ressourcen nicht mehr leisten, Bücher herauszugeben. Die Schriftsteller und Poeten, die früher bequem von ihrer Arbeit leben konnten – sofern ihre Werke genehm waren –, standen plötzlich ohne Abnehmer und Einnahmequelle da.
Mittlerweile hat sich die Situation gewandelt, alle fünf Republiken haben ihren wirtschaftlichen Tiefpunkt überwunden. Allerdings kann nur im ölreichen Kasachstan von einem gewissen Wohlstand die Rede sein, und auch dort nur bei einer recht schmalen Schicht. Es gibt jedenfalls eine Reihe von neuen und unabhängigen Verlagen. Allerdings veröffentlichen sie größtenteils Sachbücher, und zwar meist von Instituten und staatlichen Institutionen. Jeder der zentralasiatischen Präsidenten – von Kasachstans Nasarbaev über Kirgisistans Askar Akaev, Tadschikistans Emomali Rachmonov und Turkmenistans Saparmurat Nijasov bis zu Usbekistans Islam Karimov – hat ein oder mehrere programmatische Bücher geschrieben oder schreiben lassen, in denen die Erfolge und die blühende Zukunft ihrer Länder gepriesen werden.
Politikwissenschaftler und Historiker verfassen regelmäßig neue Analysen über Geopolitik und Geschichte der Region. Eine Reihe von Wörterbüchern und Textbüchern zum Erlernen der kasachischen, kirgisischen, tadschikischen, turkmenischen oder usbekischen Sprache erscheint jedes Jahr. Epen über bekannte historische Persönlichkeiten oder Legenden, wie Manas in Kirgisistan, wurden neu entdeckt. Aber Schriftsteller und Dichter sind trotz vereinzelter Veröffentlichungen in Zeitschriften und Journalen rar. Dass eifrig weiter geschrieben wird – und nicht zu wenig – kann man dennoch an den auffällig hohen Teilnehmerzahlen bei Literaturwettbewerben erkennen.


Kunst und Energie

Der Bildenden Kunst ging es zunächst ähnlich wie der Literatur. Auch hier hat sich aber Kasachstan besonders hervorgetan, weil ausländische Investoren, angezogen von den immensen Energieressourcen, das Land mit Dollarmillionen überschwemmt haben. Es gehört zum guten Ton, sich im kulturellen Bereich zu betätigen, weshalb manche Investoren Ausstellungen finanziell unterstützen und mitunter selbst Bilder kaufen. Kirgisistan ist dagegen ein weitaus ärmeres Land mit kaum nennenswerten Bodenschätzen und entsprechend weniger Investoren. Das Außenministerium in der Hauptstadt Bischkek – wo viele Ausländer verkehren – kam deshalb Mitte der Neunzigerjahre auf die Idee, Bilder einheimischer Künstler im Ministerium zum Verkauf auszuhängen – und hatte damit Erfolg.
In Kasachstan wiederum gibt es inzwischen neben hohen Regierungsbeamten auch eine Reihe zunehmend wohlhabender einheimischer Geschäftsleute, die Kunstwerke als Geldanlage erwerben. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass infolgedessen in den letzten Jahren die Preise gestiegen sind. Wie sehr sich die Zeiten tatsächlich gewandelt haben, hat auch Aiwar Tasiev feststellen können. Der für seine surrealistischen Malereien bekannte Künstler wurde im Dezember 1986 wegen der Teilnahme an einer Massendemonstration vom sowjetischen Geheimdienst verhört. Im Herbst 2000 erfuhr er die späte persönliche Genugtuung, in eben jenen Räumen des ehemaligen KGB- Gebäudes seine Bilder ausstellen zu dürfen. Heute beherbergen sie nämlich eine Galerie.

Birgit Brauer lebt seit 1995 als Journalistin in Zentralasien und schreibt für "The Economist" und "The New York Times". Nach einem Jahr in Bischkek, Kirgisistan, wohnt sie seither in Almaty, Kasachstan. In den USA erwarb sie an der Harvard University Extension School, Massachusetts, einen Bachelor’s Degree in Sozialwissenschaften und an der American University in Washington, D.C., einen Master’s Degree in Internationaler Journalistik. Sie ist Doktorandin am Centre for Russian and East European Studies (CREES) der University of Birmingham in Großbritannien und schreibt ihre Dissertation über die Ölindustrie Kasachstans.




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Zehn Jahre danach
Hoffnung und Enttäuschung in den jungen Staaten Zentralasiens
Demokratisierungsbewegung, Geschichte, Industrialisierung, Islam, Korruption, Krieg, Tradition, Umbruch, Wasser, Ökologie
10 Jahre nach der Unabhängigkeit sehen sich die zentralasiatischen Staaten einer Fülle von Problemen gegenüber: Die Demokratisierung hat bei weitem nicht das Niveau anfänglich erklärter Willensbekundungen erreicht, die Wirtschaft kommt bei allem Reichtum an Ressourcen nur sehr schleppend aus der postsowjetischen Talsohle, die „neuen Seidenstraßen“ eines wirtschaftlichen wie kulturellen Transfers sind kaum in Sicht. Die Führer sämtlicher zentralasiatischen Staaten regieren zunehmend diktatorisch, die Abgrenzung der Staaten untereinander verhindert dringend nötige Kommunikation, um beispielsweise das gewaltige Wasserproblem zu lösen. Inwiefern islamistische Oppositionsbewegungen eine reale Gefahr darstellen oder als Instrument zu einer Politik der strengen Hand dienen, muss die Zukunft erweisen. Eine Bestandsaufnahme

Von Uwe Halbach

Als vor zehn Jahren fünf Sowjetrepubliken Zentralasiens ihre staatliche Unabhängigkeit erlangten, bezeichnete sie ein Kommentar der Washington Post als „Amerikas jüngste und unbekannteste außenpolitische Partner, seit Commmodore Perry in die Bucht von Tokio fuhr“. Hier wird der Eintritt der zentralasiatischen Staaten in die internationale Gemeinschaft mit der Entdeckung und Öffnung Japans im 19. Jahrhundert verglichen. Auch wenn sich dieses maritime Bild nicht mit dem geographischen Charakter Zentralasiens verträgt und der Vergleich in mancher Hinsicht hinkt, trifft er in einem Punkt zu: Da betrat eine der westlichen Welt zuvor völlig unbekannte Region die internationale Bühne. Sie trat als Teil eines größeren Kaspischen Raumes, zu dem auch die kaukasische Region gezählt wird, aus ihrer bisherigen Randlage heraus, setzte ein Beispiel für abrupte Prominenz. Die Themen, mit denen sie Aufmerksamkeit auf sich zog, waren teils positiv, teils negativ besetzt: Auf der einen Seite standen die Unabhängigkeit ehemaliger Sowjetrepubliken, die Entdeckung bislang kaum explorierter Energielagerstätten und großangelegte internationale Projekte für „neue Seidenstraßen”, auf der anderen Schwierigkeiten der Staaten-und Nationenbildung, ein Bürgerkrieg in Tadschikistan, übergangsbedingte sozialökonomische Krisen und problematische Erbschaften der sowjetischen Vergangenheit, wie die Monokultur der Baumwolle.

Dazu kamen Vorstellungen eines neuen „Great Game“, eines Ringens externer Spieler um Einfluss in der Region und die Nachbarschaft oder Nähe regionaler Konfliktherde wie Afghanistan. Die Konzentration auf sicherheitspolitische Risiken, die aus der Nachbarschaft zu Afghanistan hervorgehen, bestimmte die internationale Berichterstattung über Zentralasien vor allem seit 1999, als erstmals Guerilla-Aktivitäten im Grenzgebiet von Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan verzeichnet wurden, und sie wird nun durch die Entwicklung nach dem Albtraum vom 11. September 2001 dramatisch verstärkt. Doch wir von diesem aktuellen Kontext zunächst einmal absehen und auf zehn Jahre Hoffnung und Enttäuschung in Zentralasien zurückblicken.


Entwicklungsoptionen und –realitäten zentralasiatischer „Transformationsstaaten“

Nach den Unabhängigkeitserklärungen gaben die politischen Führungen in allen ehemaligen Sowjetrepubliken ihren Willen kund, sich für die Entwicklung ihrer Länder von ehemals geschlossenen Sowjetgesellschaften in demokratische, marktwirtschaftliche, offene Gesellschaften einzusetzen. Die Parole der Demokratisierung wurde auch in Zentralasien hochgehalten, in jener Region der ehemaligen Sowjetunion, in der diese Entwicklungsoption am wenigsten auf historische Voraussetzungen zurückgreifen konnte. Die Zielvorstellung des modernen Nationalstaats auf der Grundlage von Zivilgesellschaft und Demokratie bedeutete für diese Gesellschaften eine weit überfordernde Umwandlung in drei grundlegenden Dimensionen: Da war erstens Staats- und Nationsbildung in ehemaligen Sowjetrepubliken gefordert, die Produkte einer einst von Sowjetkommissionen vorgenommenen „nationalen Abgrenzung“ waren; da sollten zweitens sowjetische Verwaltungs-und Machtstrukturen auf einen demokratischen Entwicklungspfad gebracht werden, und zwar in einer Region, die keine zivilgesellschaftliche Tradition im westlichen Sinne vor ihrer Sowjetisierung gekannt hatte und in der sich in den Jahrzenten nach Stalin keine Formen von Bürgerrechtsbewegung entwickelten. Drittens sollte eine Wirtschaftsumwandlung von Plan- in Marktstrukturen unter den Bedingungen einer in den ersten Jahren der Unabhängigkeit rasanten Wirtschaftsschrumpfung geleistet werden. Diese Wirtschaftsschrumpfung erlitten alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion, sie fiel aber für Länder wie Kirgisistan oder Tadschikistan besonders krass aus. Bei der ökonomischen Umwandlung setzten zwei Länder, Kirgisistan und Kasachstan, durchaus bemerkenswerte Beispiele für Reformen und die Privatisierung zuvor staatswirtschaftlicher Sektoren, auch bei der politischen sah es zunächst so aus, als folge ein Land wie Kirgisistan ganz und gar westlichen Optionen. Auch Kasachstan öffnete sich in Richtung Demokratie. Doch diese Entwicklung konnte auch in diesen beiden Ländern über Ansätze kaum hinauskommen: Parteien erlangten kaum Einfluss, der Opposition fehlte die Artikulations-und Organisationsbasis, Interessenverbände befinden sich allenfalls im Embryonalstadium, sowjetische Traditionen der Elitenrekrutierung werden weiterhin gepflegt, wenn auch neue Eliten durchaus in Politik und Wirtschaft vordrangen.
Die doppelte – vorsowjetische und sowjetische – Erbschaft zu Ungunsten westlicher Entwicklungsoptionen hat auch Ausbrecher wie Kirgisistan längst auf den Boden der regionalen Realitäten zurückgeholt. "Zu den Lektionen, die uns die Transformation erteilt hat, gehört das, was ich den Kollaps der Illusionen nenne (...). Amerikanische Hilfspropramme gingen anfangs davon aus, dass die Übergangsperiode etwa fünf Jahre dauern würde. Mittlerweile schreibt Zbigniew Brzezinski von einer Transformationsdekade. Tatsächlich sind hier wohl noch weitaus längere Perioden anzusetzen." Diese Bemerkung des kirgisischen Präsidenten Akaev von 1999 kam aus berufenem Munde. Akaev, der anfangs die erstaunlichste Öffnung einer „geschlossenen Gesellschaft“ im exsowjetischen Zentralasien personifiziert hatte, war selber zu einem Symbol für den „Kollaps der Illusionen“ geworden. Anfang der Neunzigerjahre waren vom Präsidentenpalast in Bischkek bemerkenswerte Liberalisierungsimpulse ausgegangen und hatten Kirgistan das ausnahmehafte Image einer „Insel der Demokratie“ in Zentralasien verschafft, während im Nachbarland Usbekistan in dieser Periode oppositionelle Kräfte wie die Parteien „Birlik“ und „Erk“ ausgeschaltet wurden und in Turkmenistan unter der Präsidialmonarchie des „Turkmenbaschi“ politischer Pluralismus im westlichen Sinne sich nicht ansatzweise entwickeln konnte. Doch dann setzte auch Akaev Reform zunehmend mit der Durchsetzungsfähigkeit der Präsidialexekutive gleich, dehnte seine Machtbefugnisse per Referendum aus und setzte regierungskritische Medien und Parteien unter Druck. Im politischen Grundwertekatalog seines usbekischen Amtskollegen Islam Karimov hatten von Anfang an Stabilitätswahrung vor Liberalisierung und Pluralismus rangiert, war „Demokratie“ zwar als Option für eine sicherere Zukunft aufrechterhalten, für die Gegenwart mit ihren enormen Übergangsproblemen aber als Quelle unwägsamer Gefahren behandelt worden. In allen Ländern der Region setzen die nachsowjetischen Machteliten nationale Sicherheit mit Regime-Sicherheit gleich, wird ein Großteil der politischen Energie der mit gewaltigen Aufgaben konfrontierten Regierungen vom eigenen Machterhalt absorbiert. In letzter Zeit wurde vor allem das Argument, man müsse sich islamistischer Oppositionsbildung erwehren, für die Einschränkung demokratischer Freiheitsrechte herangezogen. Gesamtbefund: In allen zentralasiatischen Staaten wurden nachsowjetische Verfassungen verabschiedet, die demokratische Institutionen und westliche Verfassungswerte deklarieren. In diesem Rahmern richteten sich aber autoritäre Regime ein.


Schatzkammer und Armenhaus

Zentralasien ist reich und gehört doch zu den ärmsten Regionen der ehemaligen „Zweiten Welt“. „Reich“ sind die Länder der Region nur in Hinsicht auf ihre Rohstoffvorkommen, wobei es ihnen – zumindest was die Öl-und Gasressourcen Turkmenistans, Kasachstans und Usbekistans betrifft – vorläufig noch an den Exportkanälen, an neuen Leitungssystemen auf die Weltmärkte, ermangelt. Bei der Rohstoffausstattung kann selbst das am wenigsten entwickelte Land, Tadschikistan, das mit seinen sozialökonomischen Daten heute unter den ärmsten Ländern der Erde rangiert, noch relativ gut mithalten: mit ergiebigen Alluminium- und Uranvorkommen und einer der größten Silberlagerstätten der Erde. Diese Ressourcen sind aufgrund der langjährigen Unsicherheit des Landes bislang kaum gefördert worden.

Unter allen Ländern der GUS kommt Kasachstan Russland am nächsten was die Breite des Rohstoffsortiments betrifft. Aus diesem breiten Sortiment ragen natürlich besonders die Energierohstoffe heraus. Kürzlich erklärte das OPEC-Sekretariat, dass Kasachstan in den nächsten 15 Jahren zu einem Hauptexporteur für Energie werden könnte. In wirtschaftlicher Hinsicht konzentriert sich das Prinzip Hoffnung in der Region natürlich besonders auf solche Aussichten: Bislang besteht eine gewaltige Kluft zwischen aktuellen und potenziellen Fördermengen von Energierohstoffen, zwischen erkundeten und vermuteten Vorräten und vor allem zwischen Förderung und Vermarktung. Eine der entscheidenden Fragen lautet: Wie werden sich die Erlöse kaspischer Rohstoffexporteure auf die Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft auswirken – wenn die Rohstoffe wirklich einmal in größerem Umfang über neue Leitungssysteme exportiert werden? Wo in dem „von Norwegen bis Nigeria“ gespannten Entwicklungsspektrum Rohstoff exportierender Länder wird ihre Zukunft angesiedelt sein? Um einer Annäherung an Nigeria vorzubeugen, planen Kasachstan und Aserbaidschan einen bestimmten Teil der Rohstoff-Einnahmen durch sogenannte „Öl-Fonds“, auch „future generation funds“ genannt, für die soziale Entwicklung und ökonomische Stabilisierung abzuzweigen. Doch der enorme Grad an Korruption in beiden Ländern wirft sofort die Frage auf, wer diese Fonds kontrollieren wird.

Der breiteren Bevölkerung hat sich die langfristige Aussicht auf Wirtschaftswachstum bislang kaum mitgeteilt. Das „United Nations‘ Development Program“ führt sowjetische Nachfolgestaaten in einem Jahresbericht 2000 unter 174 erfassten Ländern nach dem „Human Development Indicator”, der verschiedene sozialökonomische, demographische und kulturelle Kriterien (Lebenserwartung, Zugang zu Bildung, materieller Lebensstandard u.a.) umfasst, wie folgt an: Estland (46. Stelle), Russland (62.), Kasachstan (73.), Ukraine (78.), Kirgisistan (98.), Turkmenistan (100.), Moldova (102.), Usbekistan (106.), Tadschikistan (110.). Mit Ausnahme Kasachstans besetzen die zentralasiatischen Staaten das unterste Feld im exsowjetischen Raum, in dem von den westlichen GUS-Staaten nur einer rangiert, nämlich Moldova.

Dennoch ist Zentralasien keine einheitliche Region der sozialökonomischen Krise. Es bilden sich vielmehr folgende Differenzierungsprozesse heraus. Einmal vergrößert sich langfristig der Abstand zwischen den stärker industrialisierten und rohstoffmächtigeren und den rohstoffärmeren Ländern. Zwar ist Kasachstan von einer Wohlstandsgesellschaft denkbar weit entfernt, aber mit seinen sozialökonomischen Indikatoren hat es sich von Kirgisistan und Tadschikistan doch noch weiter abgesetzt als bereits in sowjetischer Zeit. Beim statistischen monatlichen Durchschnittseinkommen im Jahr 2000 zeigt sich diese Differenzierung: Kasachstan liegt mit 94 US-Dollar regional und sogar innerhalb der GUS an erster Stelle, Tadschikistan mit 8,7 Dollar am untersten Ende der Region und aller GUS-Staaten. Zum anderen wächst in allen Ländern die Einkommensdifferenzierung zwischen den Wirtschafts-und Machteliten und der breiteren Bevölkerung. Auch regionale Entwicklungsdifferenzen innerhalb der Länder – etwa in Kasachstan, wo die nachsowjetische Wirtschaftsentwicklung neue regionale Schwerpunkte im zuvor völlig unterentwickelten Westen geschaffen hat oder in Tadschikistan, wo sich der industrialisierte Nordteil vom verelendeten Rest des Landes abhebt – bergen Spannungspotential in sich.


Hoffnungssymbol „Seidenstraßen“

Im Zusammenhang mit dem Thema Hoffnung und Enttäuschung fällt mir ein Stichwort ein, das die Entwicklung im ersten nachsowjetischen Jahrzehnt in besonderer Weise begleitet und von Brüssel bis Tokio Aufmerksamkeit erheischt hat: das Schlagwort von den alten und neuen Seidenstraßen. Wofür steht das Hoffnungssymbol Seidenstraße? Zunächst einmal hat es hohen historischen Erinnerungswert: Für die lange Zeit marginalisierten Länder selber symbolisiert es die Erinnerung an vergangene Zeitalter, in denen Zentralasien seinen Platz in dem eingenommen hatte, was man heute das „internationale System“ nennen würde. In zurückliegenden Jahrzehnten mussten sich Generationen mittelasiatischer Schüler im Geschichtsunterricht anhören, wie rückständig und von der Weltentwicklung abgekoppelt ihre Region vor dem Anschluss an Russland und vor ihrer Modernisierung durch die Sowjetmacht war. Im Unabhängigkeitsprozess bezog man sich nun verstärkt auf glanzvolle Perioden mittelasiatischer Zivilisation am Rande der antiken Seidenstraßen, auf eine Geschichte, vor deren Altertümlichkeit die staatliche Geschichte Russlands verblassen mußte und in der Mittelasien mit anderen Hochzivilisationen im Kultur- und Handelsaustausch gestanden hatte. Doch die Geschichtsrekonstruktion ging nicht nur in diese Richtung – in die transnationale, überregionale, die von den Seidenstraßen markiert wurde. Sie verlief andererseits auf den Gleisen der „nationalen Abgrenzung“, auf der Grundlage der nationalstaatlichen Aufgliederung einer Region, die vor der Sowjetisierung eine solche Gliederung nicht gekannt hatte. In dieser Hinsicht emanzipierte sich Zentralasien keineswegs von den Ordnungsstrukturen, die von der alten Zentralgewalt der Region auferlegt worden waren. Da wurden alte Kultursymbole Mittelasiens nationalstaatlich besetzt und ethnisch vereinnahmt – entlang der Grenzen ehemaliger Unionsrepubliken. Geschichtsrekonstruktion in benachbarten Ländern wie Usbekistan und Tadschikistan gingen dabei auf Kollisionskurs.

Zweitens stand „Seidenstraße“ für eine Art geo- und verkehrspolitischer Entkolonialisierung. In Ost-West-Richtung zielende, als „neue Seidenstraßen“ proklamierte Transportprojekte symbolisierten die Aufhebung der bisherigen Abhängigkeit von Russland und die Erweiterung von Handelsbeziehungen über den GUS-Raum hinaus. In erster Linie betrafen solche Projekte Pipelines für Erdöl und Erdgas. Doch wie die historischen Vorbilder nicht auf Transport von und Handel mit Seide beschränkt gewesen waren, sondern einen breiten Handelskorridor und „kulturellen Verteiler“ zwischen Orient und Okzident gebildet hatten, betrafen Projekte für die „neuen Seidenstraßen“ ein Spektrum, das über Energierohstoffe hinausgeht. Sie wurden zum Katalysator für das Ausgreifen des kaspischen Raums in Nachbarregionen wie beispielsweise den Schwarzmeerraum . Das von der EU 1993 konzipierte TRACECA-Großprojekt, das Dutzende einzelner Infrastrukturprojekte umfasst, war anfangs auf die acht unabhängig gewordenen Staaten des Kaukasus und Zentralasiens zugeschnitten, wurde nachfolgend aber um neue Teilnehmer (Ukraine, Moldova, Mongolei, Bulgarien, Rumänien, Türkei) erweitert.

Soweit Projekt und Hoffnung – was war die Realität? Von Dutzenden Pipeline-Projekten, die teilweise von lautem geopolitischem Getöse begleitet waren, wurden bislang nur zwei realisiert, die noch nicht wesentlich über den GUS-Raum hinausweisen. Es entstanden neue Verkehrsverbindungen mit China, Südasien und dem Mittleren Osten, die immerhin die Aufhebung des Eisernen Vorhangs verdeutlichen. Die Seidenstraßen-Politik nährte die Erwartung an vermehrten friedlichen Austausch entlang historischer Kommunikationslinien. Dieses Ideal weicht jedoch in letzter Zeit einer Serie neuer Visaregime und Grenzbefestigungsmaßnahmen, die sogar die Verminung von Grenzgelände zwischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan eingeschlossen haben. Angesichts grenzüberschreitender Sicherheitsrisiken wie der Migration von Drogen, Waffen und Insurgenten betrachteten die unabhängig gewordenen Staaten die Durchlässigkeit ihrer Grenzen eher als schweres Sicherheitsmanko denn als einen Beitrag zur Rehabilitation alter Geschichts-, Verkehrs-und Wirtschaftsräume.

Ein eindringliches Beispiel für das Dilemma von Entgrenzung und Abriegelung bietet das Ferganatal, eine mittelasiatische Subregion, die kritische Landesteile Usbekistans, Kirgisistans und Tadschikistans umfaßt. Diese Region, in der etwa 20% der Gesamtbevölkerung Zentralasiens auf relativ engem Raum zusammenleben, bildet eine wirtschafts-und kulturgeographische sowie ökologische Einheit und wäre deshalb in hohem Maße auf ungestörte Kommunikation über neue Staatsgrenzen hinweg angewiesen, wird aber in gleichem Maße mit grenzüberschreitenden Sicherheitsrisiken und der Notwendigkeit erhöhter Grenzsicherung konfrontiert.
Umweltprobleme und Wasserkonflikte
Obwohl Zentralasien international gerne mit Erdöl, Erdgas und Pipelines assoziiert wird, heißt die mit Abstand wichtigste Naturressource für eine aride Region wie diese Wasser. Eine funktionierende regionale Wasserverteilung und -nutzung ist wichtiger für ihr Überleben als neue Leitungssysteme für Brennstoffe. Mit dem Thema Wasser verbindet sich die größte regionale Umweltkatastrophe. Sie konzentriert sich vor allem auf die Tragödie des Aralsees. Das einst viertgrößte Binnengewässer der Erde ist seit den Sechzigerjahren auf ein Drittel seiner ursprünglichen Größe geschrumpft und in zwei kleinere Seen geteilt worden. Von den ausgetrockneten Teilen des Seebodens werden riesige teilweise giftige Sand- und Salzmengen aufgewirbelt, die die Umwelt in einem Bereich über Hunderte von Kilometern schädigen. In den umliegenden Gebieten, besonders in der zu Usbekistan gehörenden autonomen Republik der Karakalpaken, häufen sich umweltbedingte Krankheiten dramatisch, die Kindersterblichkeit erreicht Spitzenquoten. Die Aral-Tragödie hat internationale Aktivitäten ausgelöst: 1992 wurde ein Zwischenstaatlicher Rat für die Probleme des Aralbeckens gegründet, 1994 ein Internationaler Fonds für den Aralsee, 1997 ein von der Weltbank gefördertes Projekt für Umweltmanagement des Aralsees. Doch diese Arrangements änderten bisher wenig an der Umweltsituation und ihren ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen in der Region. Die wesentlichen anthropogenen Ursachen der Aral-Verlandung sind dieselben wie in sowjetischer Zeit: Erschöpfung des Bewässerungssystems bei weiterer Vorherrschaft des bewässerungsintensiven Baumwollsektors in der Landwirtschaft Usbekistans und Turkmenistans, miserables Wassermanagement. Was die ausländischen Aktivitäten betrifft, hat sich in der Region selbst das Sprichwort gebildet: Wenn jeder Umweltspezialist, der zu uns kommt, einen Eimer Wasser mitbrächte, wäre der Aral wieder voll. Doch das Araldesaster bildet nur die sichtbare Spitze einer weit umfassenderen Umwelt – und Wasserkrise in Zentralasien.

Die seit 1991 noch um 25 Prozent gestiegene Wassernachfrage trifft auf ein weitgehend erschöpftes Bewässerungssystem. Mehr als 90 Prozent der überirdischen Wasserressourcen Zentralasiens werden aus den Becken der beiden Hauptströme Amu-Darja und Syr-Darja geschöpft. An die hundert kleinere Flüsse und Nebenflüsse überqueren die heutigen Staatsgrenzen, ohne dass ihr Rechtsstatus auf zwischenstaatlicher Ebene geregelt ist. Ein dringend erforderliches regionales Nutzungsregime ist bis heute nicht zustande gekommen. Das Problem hat auch eine überregionale Dimension und bezieht China ein. Zwischen Kasachstan und China kam es bereits zu Spannungen über Wasserentnahmen aus den Flüssen Ili und Irtysch auf chinesischer Seite (Xinjiang-Uigur), durch die eine Industrieregion Nordkasachstans mit 2,5 Millionen Einwohnern in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Risiken für die regionale Sicherheit resultierten besonders aus der Überlagerung ungeregelter Wasserverteilung mit zwischenstaatlichen Grenz- und Territorialdisputen, wie sie etwa seit 1999 zwischen Usbekistan und Kirgisistan ausgetragen wurden. Territorialstreitigkeiten zwischen den fünf Republiken – vor allem zwischen Usbekistan und seinen Nachbarn – resultieren aus der in frühsowjetischer Zeit vorgenommenen „nationalen Abgrenzung“. Die Regierungen haben die Territorialordnung der „nationalen Abgrenzung” zwar anerkannt und Revisionsbestrebungen als Gefährdung der regionalen Sicherheit zurückgewiesen, vertreten aber kontroverse Interpretationen über den „wirklichen Verlauf“ der in sowjetischer Zeit mehrfach revidierten Demarkationslinien. Zwischen Usbekistan und Kirgisistan wurden bei solchen Streitigkeiten die gegenseitigen Lieferbeziehungen von Wasser einerseits und Ergas andererseits gleichsam als Waffe eingesetzt. Wenn die Rede auf Sicherheitsrisiken in Zentralasien kam, wurde seit 1999, seit den ersten grenzüberschreitenden Kampfaktivitäten einer militanten „Islamischen Bewegung Usbekistans“, an erster Stelle auf die Herausforderung durch eine angeblich wachsende islamistische Mobilisierung und ihre Rückendeckung durch Stützpunkte in Afghanistan hingewiesen. Dieses aktuelle Bedrohungsbild sollte aber Unsicherheitsfaktoren wie die ungeregelten Wasser- und Grenzfragen nicht überdecken. Wasserprobleme könnten sich langfristig als eines der größten Unsicherheitsfaktoren in der Region erweisen.


Sicherheits-und Stabilitätsprobleme der Region

Zentralasien bietet mit seinen Sicherheits-und Stabilitätsproblemen ein anderes Bild als der Kaukasus, dessen Konfliktlagen vor allem durch widerstreitende Souveränitäts- und Territorialansprüche zwischen unterschiedlichen Volksgruppen bestimmt sind und an die Verhältnisse auf dem Balkan erinnern. Auch in Zentralasien warfen Volksgruppen-Konflikte am Ende der sowjetischen Periode ihren Schatten auf die Entwicklung der Region. Insbesondere in dem gerade erwähnten Ferganatal mit seinem Gemenge aus usbekischen, kirgisischen und tadschikischen Bevölkerungsteilen existiert weiterhin ein ernstzunehmendes Potiental für interethnische Konflikte. Dennoch standen zum Beispiel Sezessionsdramen zwischen ehemaligen Unionsrepubliken und ihnen inkorporierten national-territorialen Körperschaften, die im Kaukasus den meisten Konflikten zugrunde liegen, hier nicht im Mittelpunkt des Konfliktgeschehens. Der Hauptkonflikt der Region in nachsowjetischer Zeit, der Bürgerkrieg in Tadschikistan (1992-97), war weniger durch ethnische Frontlinien geprägt als durch Identitäts-und Interessengegensätze innerhalb der tadschikischen „Nationalität“, die es bis heute nicht geschafft hat, zur „Nation“ zu werden. Da überlagerten sich Machtkämpfe zwischen Gruppierungen mit Rückhalt in bestimmten Landesteilen und konkurrierenden Warlords mit politisch-ideologischen Gegensätzen – ein Oppositionsgemisch aus „Islamisten“ und „Demokraten“ forderte ein von außen (Russland, Usbekistan) unterstütztes Regime heraus. Der Krieg wurde durch ein Friedensabkommen 1997 in eine Phase übergeleitet, in der bewaffnete Oppositionskräfte in die Regierung integriert wurden. Was diese Machtteilung betrifft, ist Tadschikistan heute das einzige Land der Region mit einem „pluralistischen“ politischen System, in dem sich erbitterte Bürgerkriegsgegner in einem Koalitionsregime zusammengetan haben. Es ist auch das einzige Land, in dem eine islamistische Partei, die Partei der Islamischen Wiedergeburt, mitregiert. Von Stabilität ist dieses Arrangement freilich nicht geprägt, blieben doch einige am Bürgerkrieg beteiligte Akteure außerhalb des Prozesses „nationaler Versöhnung“. Nach wie vor reicht der Machtradius der Zentralregierung nicht weit über die Hauptstadt hinaus, bestehen in einigen von der Regierung nicht kontrollierten Landesteilen rechtsfreie Räume, über die Drogen und Waffen transferiert werden und in denen sich zum Beispiel Freischärler verschanzen können.

Als eine Kristallisationszone regionaler Sicherheitsprobleme trat das schon erwähnte Ferganatal hervor, jene Region, in der sich Staatsgrenzen von drei Republiken besonders verwirren und ineinander verschlingen. Hier leben auf 5 % des Gesamtterritoriums Zentralasiens mehr als 20 % seiner Gesamtbevölkerung. Hier finden sich die größten lokalen Bevölkerungsdichten (bis über 500 Menschen pro Quadratkilometer) und wirtschaftliche sowie demographische Schwerpunkte der drei Republiken, ebenso die stärkste grenzüberschreitende ethnische Mischung der Bevölkerung, wobei ethnische Usbeken in allen Teilen des Ferganatals stark repräsentiert sind (84% der Bevölkerung in den zu Usbekistan, 27% der Bevölkerung in den zu Kirgisistan und 31% der Bevölkerung in den zu Tadschikistan gehörenden Teilen ). In einigen Teilen dieser Region spitzen sich die sozialökonomischen Krisen Zentralasiens, insbesondere die Arbeitslosigkeit, dabei vor allem unter der Jugend, besonders zu. Der Anteil kultivierbaren Bodens pro Kopf der Bevölkerung ist dramatisch gesunken. Die Konkurrenz um knappe Land-und Wasserressourcen und um knappe Arbeitsplätze wurde nicht nur zum Auslöser für Konflikte zwischen Volksgruppen, die sozialökonomischen Krisenerscheinungen bilden insgesamt einen Nährboden für ethnischen oder religiösen Extremismus. In keiner anderen Region der zerfallenen Sowjetunion mit Ausnahme der östlichen Teile des Nordkaukasus ist das Potential für eine Radikalisierung des Islam aufgrund der historischen, kulturellen, politischen und sozialökonomischen Rahmenbedingungen größer als hier. In den usbekischen Ferganatal-Provinzen kam es seit 1992 zu heftigen Konfrontationen zwischen der Staatsgewalt und non-konformistischen Islambewegungen.


Das Gespenst der „Afghanisierung“:

Terrorismus, Islamismus, Drogenhandel
Hatten sicherheitspolitische Eliten der zentralasiatischen Republiken in der ersten Hälfte der neunziger Jahre „Afghanisierung“ als Stichwort für den „worst case“ interner Entwicklung angeführt, für ein Scheitern nachsowjetischer Staatlichkeit, verwenden sie seit dem Vormarsch der Taliban von 1995/96 das Stichwort „Afghanistan“ als Hauptnenner für externe Bedrohung. Im Sommer 1999 waren bewaffnete Formationen einer „Islamischen Bewegung Usbekistans“ aus Rückzugsbasen in Afghanistan über Tadschikistan in Grenzgebiete Kirgistans eingefallen, um für einen „islamischen Staat“ im Ferganatal zu kämpfen. Ein Jahr später wiederholte sich dieser Vorfall. Diesmal drangen die Insurgenten auch in Territorien Usbekistans ein. Mittlerweile bereitet sich auch Kasachstan militärisch auf die Abwehr solcher Invasionen vor. Da den Insurgenten, deren militärische Stärke mit unterschiedlichsten Zahlen beziffert wird, Verbindungen zu überregionalen Terrornetzwerken wie der „al-Qaida“ bin Ladens nachgesagt werden, entstand ein Bedrohungsbild, das mit den Themen internationaler Terrorismus, Drogenhandel und Taliban lange vor dem 11. September Aufmerksamkeit auf Zentralasien lenkte. Kräftig unterstützt wurden entsprechende Bedrohungsperzeptionen von Russland, das das Thema „Terrorismusbekämpfung“als Hauptmotiv für eine Stärkung militärischer Kooperation innerhalb der GUS anführt und mit der „Bekämpfung islamistischer Netzwerke“ auch sein Vorgehen in Tschetschenien zu rechtfertigen versucht.

Das häufig angeführte Bedrohungsbild hebt auf zweifellos ernstzunehmende Sicherheitsrisiken ab. Dazu gehört zum Beispiel der von Afghanistan ausgehende, nach Europa zielende Drogenhandel. Ende der 1990er Jahre avancierte Afghanistan zum größten Opiumproduzenten der Welt. Das exsowjetische Zentralasien wurde zu einem der wichtigsten Transiträume für Opium und Opiumderivate aus Afghanistan. Dabei gerieten die Transitländer selber in den Würgegriff der Drogenkriminalität. In enger Verbindung mit ihr werden die Vorstöße islamistischer Insurgenten im Ferganatal behandelt. Den Akteuren der „Islamischen Bewegung Usbekistans“ (IBU) wird das Interesse an der Sicherung von Drogenrouten vor staatlichem Zugriff nachgesagt. Während die IBU weitgehend mit Terrorismus und Banditismus assoziiert wird, bringt man eine andere islamistische Bewegung, die seit Mitte der neunziger Jahre in Zentralasien agierende, aus der jüngeren Geschichte des Mittleren Ostens bekannte „Hizb ut Tahrir al Islami“ (Partei der islamischen Befreiung) eher mit einer ideologischen Offensive gegen die nachsowjetischen Machtverhältnisse in Zentralasien in Verbindung. In Usbekistan wird jede Person, die mit einem Flugblatt dieser Partei angetroffen wird, ins Gefängnis geworfen. Aber auch in Kirgisistan und Tadschikistan haben die Machtstrukturen den Kampf gegen die „Tahriri“eröffnet. Ihnen wird die Verteilung regierungsfeindlicher Flugblätter vorgeworfen. Gewalttaten können ihnen zumeist nicht nachgewiesen werden. Ihr utopisches Fernziel besteht in der Erneuerung eines Kalifats, das alle Muslime politisch integriert.

Dieses um Afghanistan kreisende Bedrohungsbild wird durch die aktuellen Ereignisse nach dem 11. September noch erheblich aufgeladen. Es enthält jedoch ein analytisches Risiko: Es kehrt Stabilitätsdefizite, die in den jungen und ungefestigten zentralasiatischen Staaten selbst zu suchen sind, nach außen und drängt langfristige, strukturelle Quellen regionaler Unsicherheit in den Hintergrund. Dazu gehören einerseits Entwicklungen auf der innerstaatlichen und –gesellschaftlichen Ebene, die zum Beispiel den Institutionenaufbau schwächen und die Staatsautorität in der Bevölkerung untergraben wie die allgegenwärtige Korruption, die wachsende Frustration immer breiterer Bevölkerungsteile mit den sozialökonomischen Resultaten der nachsowjetischen Reformen oder ihrer Unterlassung sowie die wachsende Neigung der Regime, auf ihre Herausforderungen mit repressiven Mitteln zu reagieren. Dazu gehören auch zwischenstaatliche Probleme wie Grenz-und Territorialkonflikte, die durch einseitige, ohne Rücksicht auf Nachbarstaaten vorgenommene Grenzbefestigungen aufgewirbelt wurden. Generell besteht eine Hauptschwäche der Region im Mangel an zwischenstaatlicher Kooperation. Dabei bestehen in kaum einem anderen Teil der Erde zwingendere Anlässe zu regionaler Zusammenarbeit. Die politische Kommunikation wurde in der Region in den letzten Jahren deutlich gestört – innerstaatlich durch die zunehmende Ausschaltung von Pressefreiheit, zwischenstaatlich durch gegenseitigen Argwohn zwischen den Staaten und ihren Führungen. Eine wirkliche Demokratisierung ist bis auf weiteres nicht in Sicht.



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Demokratie als Ideologie
Acht Thesen zum Charakter der politischen Systeme in Zentralasien
Demokratisierungsbewegung, Diktatur, Gewalt, Macht, Menschenrechte
Alle Staaten Zentralasiens schlugen gleich nach ihren Unabhängigkeitserklärungen den Kurs einer Demokratisierung der politischen Systeme ein. Obgleich es heute in allen Staaten der Region demokratische Einrichtungen nach westlichem Beispiel gibt, hat die Demokratie in Zentralasien spezifische, nur für diese Region charakteristische Eigenheiten

von Erlan Karin

Alle Staaten Zentralasiens schlugen gleich nach ihren Unabhängigkeitserklärungen den Kurs einer Demokratisierung der politischen Systeme ein. Obgleich es heute in allen Staaten der Region demokratische Einrichtungen nach westlichem Beispiel gibt, hat die Demokratie in Zentralasien spezifische, nur für diese Region charakteristische Eigenheiten, was dadurch begünstigt wird, dass alle Länder derzeit einen dreifachen Übergang durchmachen: zum ersten vom Totalitarismus zur Demokratie; zum zweiten von einer verwaltenden Planwirtschaft hin zur Marktwirtschaft und zum dritten von einer randständigen Republik hin zum unabhängigen Staat. Diese Faktoren prägen die spezifische Entwicklung der Demokratisierungsprozesse in den Ländern Zentralasiens. Die folgenden Aspekte sind dabei von besonderem Gewicht:


Ideologie der Übergangszeit

Ursprünglich kamen die Gedanken der Demokratie – die sich in Parlamentarismus, Gewaltenteilung und anderen Prinzipien ausdrücken – in den Ländern Zentralasiens im Gewande der Unabhängigkeitsbewegung daher. Das Streben nach Unabhängigkeit war anfangs die wichtigste Losung der Demokratie, später dann die Strategie gesamtnationalen Fortschritts und die der Festigung der neuen Staatlichkeit. Heute sind der Appell an die Einheit der Nation sowie die Negierung eines Kampfes im Innern, der den nationalen Interessen von Souveränisierung und Demokratisierung Schaden zufügen würde, die Grundlage der Ideologie in der Übergangszeit. Zum Repräsentanten dieser postsowjetischen Ideologie wird der Präsident. Dieses Spezifikum beeinflusst den Demokratisierungsprozess in vielen Republiken der Region weiterhin merklich.


Herrschaftstraditionen

In den ersten Jahren der Unabhängigkeit versuchten die zentralasiatischen Staaten, das westliche Demokratiemodell in Reinform zu übernehmen und zu kopieren. Allerdings wurde bei dieser Politik nicht die besondere Mentalität der Bevölkerung berücksichtigt, die im Festhalten an sozialistischen Werten, so wie sie sich in den Jahren der Sowjetunion eingebürgert haben, wie auch in vorhandenen asiatischen Herrschaftstraditionen zum Ausdruck kommt. Heute gibt es in den Republiken der zentralasiatischen Region Versuche, die Realitäten des Staatsaufbaus, das Spezifische der nationalen Psychologie und demokratische Standards miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Nur wird Demokratie in den Ländern der Region vor allem als Ideologie, nicht aber als Funktionsmechanismus eines Staates begriffen. Hinzu kommt: die herrschenden Eliten bemühen sich darum, die Prinzipien der Demokratie nicht auf den Mechanismus des Staates auszudehnen.


Staatlicher Paternalismus

In den Ländern Zentralasiens ist die vorherrschende politische Tendenz der staatliche Paternalismus. Grundlage hierfür war in vielen Republiken die traditionalistische politische Kultur der Massen, die zu selbstständiger politischer Tätigkeit weiterhin nicht bereit sind. Dies macht sich die herrschende Elite zunutze, um Initiativen von Bürgerseite aus ruhig zu stellen, und erklärt ihr Vorgehen damit, dass die politische Führung die grundlegenden Interessen des Volkes besser kenne als die Wähler selbst.


Das Patron-Klient-Schema

Der Großteil der Bevölkerung in Zentralasien lebt in patriarchalen und traditionalistischen Verhältnissen. Deren Grundlage ist das Beziehungsgeflecht unter Blutsverwandten sowie innerhalb der Gemeinde, das nach dem Schema "Patron – Klient" aufgebaut ist. Charakteristisch für dieses Schema sind persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, in denen die Führungsperson als Patron auftritt und die Klienten ihm Nahestehende und Verwandte sind. Auch dies spiegelt sich im Verlauf des Demokratisierungsprozesses in den jungen Staaten Zentralasiens wider.


Autorität über Volkssouveränität

Von Beginn der Unabhängigkeit an war einer der wichtigsten Punkte bei den Verfassungsreformen in Zentralasien die Schaffung von regulär tagenden, funktionsfähigen Parlamenten. Während aber im Westen die Legitimität von Macht in regelmäßigem Turnus durch Zustimmung bei Wahlen ermittelt wird, gibt es in Zentralasien traditionelle und sowjetische Relikte – etwa, dass die Meinung des Volkes als nicht extra erforderlich gilt, um die Rechtmäßigkeit von Macht zu bestätigen. Mehr noch, auch bei der Durchführung von Wahlen, im Wahlkampf der Abgeordneten "des Volkes" und anderer "vom Volk" Gewählter hat sie faktisch überhaupt keine Bedeutung. Das rührt in erster Linie daher, dass ungeachtet der Volkssouveränität, die das wichtigste Prinzip der UdSSR darstellte, die Stimmen der Wähler keine besondere Rolle spielten. Wie auch früher schon herrschen nicht nach "westlichem" demokratischen Verfahren Gewählte, sondern größtenteils Politiker, die über politische Autorität verfügen.


Das Amt des Staatsoberhaupts

Es ist nicht zu bestreiten, dass es in den zentralasiatischen Republiken demokratische Verfassungen gibt, doch haben sie in der Region eine etwas andere Funktion als in den westlichen Ländern. So wie die Verfassungen in Zentralasien formuliert sind, befördern sie weniger die Macht des Volkes, sondern festigen vielmehr die Position der bestehenden Staatsmacht und stärken damit ihre Legitimität. Wie die meisten Herrschenden im postsowjetischen Raum haben auch die zentralasiatischen Staatsoberhäupter viel Sowjetisches an sich. Das Amt des Staatsoberhaupts wird nicht nur qua Gesetz verabsolutiert, sondern auch in der öffentlichen Meinung sowie in den Massenmedien und den Tätigkeiten gesellschaftlicher Organisationen – was der Entwicklung der demokratischen Prozesse natürlich seinen unauslöschlichen Stempel aufdrückt.


Die Verkörperung des nationalen Geistes

Während im Westen vor allem Recht und Gesetz als Basis der Demokratie gelten, sind in Zentralasien diese demokratischen Werte häufig durch die autoritative Macht eines einzelnen Subjekts – des Staatsoberhaupts – ersetzt worden. Seinerseits tritt der Präsident in den zentralasiatischen Republiken als alleiniger Garant der staatlichen Stabilität auf. Deshalb wird der präsidiale Autoritarismus in vielen Republiken hinter vorgehaltener Hand auch als eine vorübergehende Erscheinung bezeichnet. Das Oberhaupt der ganzen Nation wird in den Republiken als Verkörperung des nationalen Geistes und Interesses angesehen, sein Charisma rechtfertigt die uneingeschränkte Macht als Präsident. Auf diese Weise ist die Macht in den zentralasiatischen Republiken in den Befugnissen eines einzigen Amtes zentralisiert und personifiziert. Unter solchen Bedingungen ist der Präsident, auch wenn er nicht nur zum Staatsoberhaupt, sondern auch zum Vorsitzenden der Exekutive ernannt worden ist, kein Repräsentant der letzteren. Diese oberflächlichen Zugeständnisse an das Prinzip der Gewaltenteilung können also nur bedingt als Tribut an den westlichen demokratischen Konstitutionalismus bezeichnet werden. Dies ist ein weiterer Unterschied zum westlichen Demokratiemodell, wo bekanntermaßen vor allem die Verfassung als Garant der Stabilität einer Gesellschaft fungiert.


Demokratie als Ideologie

Demokratie wird in diesem Sinne als höchst vollkommene Ideologie begriffen. Hierher stammt die Ablehnung jeglicher Alternative zur demokratischen Ideologie, und ihr wird ein totaler, alles durchdringender Charakter in allen Bereichen der Gesellschaft zugestanden. Demokratie aber, die in den zentralasiatischen Republiken als eindeutiger Funktionsmechanismus von Macht auftritt, wird nicht nur nicht genutzt, sondern ist eigentlich überhaupt nicht vorhanden.

Übersetzt aus dem Russischen von Katharina Narbutovic


Erlan Karin, geboren 1976, ist Politologe und Direktor der "Zentralasiatischen Agentur für Politische Studien" (APR) in Almaty, Kasachstan. Die Agentur APR besteht seit Frühjahr 2000. Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Themen der Sicherheit, der Geopolitik sowie Demokratiefragen, zwischenstaatliche Belange Zentralasiens und politische Eliten.

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Musik hinter Wänden
Von Frauen überliefert – sufische Musikrituale
Identität, Islam, Macht, Ritual, Subkultur, Sufismus, Tabu, Tradition, Zensur, orale Tradition
In der Abgeschlossenheit des weiblichen Teil des Hauses konnten sufische Musikrituale die russische Unterdrückung religiösen Lebens überstehen.

Von Razia Sultanova

Kultur, so eine weit verbreitete Vorstellung, lässt sich einer Nation, einer Gesellschaft äußerlich ablesen. Das trifft aber nicht immer zu. In bestimmten Regionen sind Teile der Kultur vor der Aufmerksamkeit fremder Augen verborgen, sind nur Menschen verständlich, die mit der Ethik der lokalen Tradition vertraut sind. In den zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion beispielsweise haben sich die Lebensgewohnheiten in der letzten Zeit äußerlich stark verändert. In vielen Haushalten finden sich ein Fernseher und Mobiltelefone, Pepsi-Cola oder sogar ein Computer, also scheinbar alle Anzeichen der modernen Weltzivilisation. Bezeichnend ist aber, dass sich das Leben in Extremsituationen wieder der "alten Zeit" zuwendet. Gibt es einen Kranken im Hause, so vertraut er auf die Hilfe der lokalen Tabibs und nicht auf die Ärzte im weit entfernten Zentralkrankenhaus. Gibt es Unannehmlichkeiten in der Familie oder bei der Arbeit, geht man nicht zum Psychotherapeuten wie im Westen, sondern veranstaltet ein "Chudai", das Ritual der Segnung Allahs, um die Probleme zu lösen. Im weiblichen Milieu wird sehr oft das Ritual "Muschkul Kuschod" (Überwindung von Schwierigkeiten) vollzogen, das zur Lösung der Sorgen befähigt. Die Frauen tragen dabei im Sprechgesang zutiefst mystische sufische Poesie mittelalterlicher Autoren vor. Das Ritual benötigt außerdem sieben obligatorische Objekte – Wasser (oder Tee), Brot, Süßigkeiten, Mehl, Öl, einen Spiegel und Feuer – und ist daher sogar präislamischen, also zoroastrischen Ursprungs.
In diesen Regionen gibt es eine besondere "Lebensschule der Großmütter". Wenn beispielsweise eine Hochzeit mit großem Aufwand gefeiert wird, aber ohne die Gegenstände, mit denen der Geist der Vergangenheit beschworen wird, so rechnet man mit einer unglücklichen Entwicklung. Kleidung, Schmuck, Haushaltsgeräte aus der alten Zeit sind aufgereiht, um das Einverständnis mit der Welt der Verstorbenen zu demonstrieren – obwohl man wahrscheinlich nichts davon im zukünftigen Leben gebrauchen kann. Nicht nur die Landbevölkerung, sondern auch 90 Prozent der Städter befolgen bei Hochzeiten oder anderen Feierlichkeiten von existenzieller oder gesellschaftlicher Bedeutung diese Regel, um die Neuvermählten vor Behexung und dem bösen Blick zu bewahren. Und natürlich erklingt neben der populären Musik oft auch die traditionelle. In die Popsongs fügen sich die alten Gesänge, die einen religiösen Liedschatz muslimischer Prägung darstellen. Auffällig ist allerdings, dass sehr oft nur die "weiblichen" Seelen und die von ihnen hinterlassenen Traditionen erinnert werden, wie das bereits erwähnte Ritual "Muschkul Kuschod", das sich traditionsgemäß an die Göttin Bibi Seschanba richtet. Die Welt ist hier geteilt in einen realen und einen suprarealen Raum, ein Faktum, das sich auch in der Existenz einer weiblichen und einer männlichen Sphäre widerspiegelt.


Im Itschkari – Hinter Wänden

Das Leben der Frauen in der muslimischen Familie verlief in derjenigen Hälfte des Hauses, die Männer nicht betreten durften. "Itschkari", innerer Teil, hieß der Teil der Wohnstätte, der ausschließlich den Frauen vorbehalten war. Noch heute hat in Regionen wie Choresm im Südwesten Usbekistans eine Braut im städtischen Milieu kein Recht, die Stimme zu erheben. Sie darf nicht sprechen, weder Fragen stellen noch antworten. Wenn sie selbst gefragt wird, darf sie nur mit dem Kopf nicken. Fremde haben zum Itschkari keinen Zutritt. Nur die Nahestehenden dürfen hinein: Familienmitglieder, Verwandte, Vertraute, Kinder. Auf diese Weise hat sich das Leben der Frauen in einem geschlossenen Milieu ohne äußeren Einfluß formiert. Frauen haben ihre eigene "Schule des Lebens", die von den alten Frauen an die Töchter und Enkelinnen weitergegeben wird, ihre eigene Lehre von der Religion, ihre eigenen Vorstellungen von der Geschichte und vom Weltgeschehen, ihre eigene Musik und ihre eigenen Lieder.


In der sub-realen Welt

Nicht nur der Islam mit seiner Trennung der männlichen von der weiblichen Lebenswelt ist dafür eine mögliche Erklärung, sondern auch die lokale, überaus eigentümliche Geschichte mit ihrer Vielzahl von Verboten und Verfolgungen durch das sowjetische Regime. So war es äußerst unerwünscht, sich öffentlich in nicht-russischer Sprache zu unterhalten, an Gott zu glauben, die im Islam vorgeschriebenen Gebete abzuhalten, an die Gegenwart von Geistern und der ins Jenseits hinübergegangenen Verstorbenen zu glauben und damit ein eigenes Weltverständnis zu offenbaren, das von dem des sowjetischen Regimes verschieden war. Doch da die Politik der Sowjetunion nur hohle Losungen wie "Der Kommunismus – unsere leuchtende Zukunft" anzubieten hatte, zog sich das Leben in die Tiefe einer sub-realen Existenz zurück. Alles war in eine Welt der zweideutigen Anspielungen und des Kontextes verwandelt. So wurde es unüblich, den Namen Allahs auszusprechen, man ging zu einer nur gedanklichen Erwähnung über. Die "Mawljudi", festliche Rituale zum Geburtstag des Propheten, wurden unter dem Anschein einer Abschiedsfeier für den in die sowjetische Armee eingezogenen Sohn begangen, den muslimischen Initiationsritus des Sohnes oder die Beschneidung nannte man in den Einladungen "Feier des Namenstags". Die vielen Verbote haben zu einem äußerst verfeinerten kulturellen Milieu geführt, in dem Vergangenheit und Gegenwart zum eng verwobenen Knäuel wurden. Vielleicht ist das der Grund, warum noch im 21. Jahrhundert das Leben im Geist der früheren Zeiten dahinfließt. Jeder Schritt wird mit Rücksicht auf das Gestrige getan, als wäre die heutige Welt nur eine Annäherung an eine andere Sicht auf die ewigen Wahrheiten und Lehren der Vergangenheit.


Die Rituale des Alltags

Neben dem Austausch der Religion durch eine äußerlich säkulare Alltagskultur hat sich im weiblichen Milieu und besonders im Itschkari die islamische Kultur nicht nur erhalten, indem sie von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Nehmen wir als Beispiel den Alltag einer der durchschnittlichen ländlichen Familien – die in Zentralasien rund zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen. Die verschiedenen Etappen im Leben eines Menschen – Geburt, Hochzeit, Tod – unterstehen hier der "Weihe" weiblicher Rituale. Ihre Formen, ihre Vielfalt sind eine kaum untersuchte Erscheinung, dabei sind gerade in ihnen die wahren Wurzeln dieser geheimnisvollen und erstaunlichen Kultur erkennbar. Es gibt keinen bedeutenden gesellschaftlichen Anlass, zu dem Frauen nicht eingeladen wären: die Nachbarinnen oder die weiblichen Verwandten, aber auch Frauen mit religiösem Status – die "Otin-Oj". Sie müssen jedem Familienereignis beiwohnen, damit man mit ihnen die Freude teilen oder sie in der Not um Unterstützung bitten kann.
Als Vertreterinnen einer Art "Geheimorden" wird den Otin-Oj besondere Ehrerbietung entgegengebracht. Sie führen die obligatorischen "Rituale des Lebenskreises" aus, die auf dem Singen der Suren des Korans, der Hymnen auf die Gründer der sufischen Orden und sufischer, mittelalterlicher Poesie basieren. Bei der Geburt eines Kindes ist es der Sprechgesang des Koran. Sind 40 Tage vergangen, wird für das Kind das "Beschik-To" ausgerichtet – eine offizielle Feier aus Anlass seines Erscheinens auf der Welt und der erstmaligen Wiegenlegung. Hier kann die Otin-Oj nicht nur religiöse, sondern auch – im Dialog mit den anwesen-den Gästen – Scherzreime singen: "Wie soll ich das Kind betten? Quer auf die Wiege? Wie soll ich das Kind betten? Unter die Wiege? Oder in die schön bemalte Wiege?" Besonders aktiv nimmt die Otin-Oj an Hochzeiten teil, den "Tojs", bei denen eine räumliche Trennung von Frauen und Männern vorgesehen ist. Die Otin-Oj ist die Hauptteilnehmerin des weiblichen Teils. Sie singt die religiösen Geleitworte in jeder Phase der Zeremonie: dem Erscheinen der Braut, der Ankunft des Bräutigams, dem "ersten Blick" des Bräutigams auf die Braut (in der asiatischen Tradition darf der Bräutigam seine Braut, die ihm von seinen Eltern ausgewählt wurde, vor der Hochzeit nicht sehen). Häufig gesungen werden die Hymnen "Assalomu", sufische Poesie in philosophischer Auslegung. Bei einem Todesfall in einer ländlichen Familie wird das Ritual "Dshanaza" ausgeführt. In der Zeit, als die islamischen Rituale unter Männern bei Androhung von Strafe verboten waren, vollzogen Frauen dieses Ritual unter Verwendung der Suren des Korans und sufischer mystischer Poesie. Sehr oft ist die Poesie von Achmad Jasjawi "La Illacha Illa Lach" zu hören. Manchmal finden sich auch einige Otin-Oj zusammen, um beliebte religiöse Sujets vorzutragen, die sie gemeinsam singen. Oft gehen die Zusammenkünfte in ein "Zikr" über, eine ekstatische Zeremonie mit dem Ziel, göttliche Erleuchtung zu erreichen.
Diese Aufzählung von Anlässen zeigt, dass die Otin-Oj unverzichtbare Teilnehmerinnen bei allen lebenswichtigen Ereignissen sind. Obwohl infolge der langjährigen Zerstörung einiges von den althergebrachten religiösen Ritualpraktiken verloren gegangen ist, blieb ihre funktionale Bedeutung und Bindung an jedes einzelne Ereignis bis heute bestehen. Für das gesellschaftliche Bewusstsein sind sie unabdingbar. "Großmutters alte Zeit" ist eine Erscheinung, die, obwohl von der Jugend gemieden, unverändert im Leben jeder einzelnen Familie in Usbekistan und in den Nachbarrepubliken existiert.


Spuren des Sufismus

Historisch gesehen haben Zentralasien und insbesondere Usbekistan immer einen wichtigen Platz in der Entwicklung des Islam und des Sufismus im Besonderen eingenommen. In Zentralasien haben sich die fünf weltbekannten sufischen Orden formiert, deren Ziel die Suche nach geistiger Vollkommenheit und Einheit mit Gott darstellte. Obwohl die Begründer der Orden immer Männer waren, ist die Teilhabe von Frauen an der sufischen Bewegung überliefert. Es ist bespielsweise bekannt, dass im sufischen Orden "Jasawija" die Frauen zum Zikr zugelassen waren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in Taschkent weibliche Feierlichkeiten des Kadirischen Ordens begangen, wo sie den "Dshacharija", den lärmenden Zikr, ausführten. Im Kreis aufgestellt vollführten die Frauen einen ekstatischen Tanz und sangen die Suren des Koran. Die letzten weiblichen Zikren fanden unter der Leitung von Achmadchon-Chotin 1961 statt.
So spielten Frauen eine besondere Rolle in der Geschichte des Sufismus, als die bolschewistische Partei nach ihrer Machtübernahme versuchte, einen atheistischen Staat zu schaffen. Alle Religionen, darunter auch der Islam, wurden verboten. Die Mullahs, Ischanen und Sufis gerieten nicht selten in Haft oder in die Lager des Gulag. Ihre Frauen und Schwestern erwiesen sich als weniger angreifbar. Da sie ihre religiösen "Schulen" im Privaten realisierten, blieben sie von der öffentlichen Überwachung verschont. Indem sie die Familientradition fortsetzten, haben diese Frauen – wenn auch oft in veränderter Form – das Wissen über den Sufismus, seine Geschichte und seine Praktiken übernommen. Musik und Poesie haben eine ganze Welt tiefer traditioneller Kulturwerte gerettet. So gibt es zwar heute kaum noch Schulen, Lehrer und Schüler des zentralasiatischen Sufismus – obwohl man in letzter Zeit eine langsame Wiederbelebung des Ordens der Nakschbandija im Ferganatal beobachten kann –, aber die musikalisch-poetischen, sufischen und rituellen Vorstellungen sind im weiblichen Milieu, im weiblichen Teil des Hauses erhalten geblieben.

Aus dem Russischen von Franziska Seppeler


Razia Sultanova, geboren 1955 in Wladiwostok, ist Ethnomusikologin und beschäftigt sich besonders mit ritueller Musik von Frauen in historischer und zeitgenössischer Dimension. Seit 1996 ist sie Research Fellow am Goldsmiths College, University of London, seit 2000 Gastprofessorin am Staatlichen Konservatorium von Moskau. Sie hat mehrere Bücher und eine Vielzahl von Artikeln über musikalische Phänomene Zentralasiens veröffentlicht, unter anderem "Song in Uzbek Ritual" (1994), "Central Asian Republics: Bards of the Golden Road" (in World Music – The Rough Guide, 2000) und "Sufi Music in Central Asia" (in Grammophone, 1998).