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Väter und Söhne
Zwei Generationen neuer Künstler in Kasachstan
Grenzerfahrung, Guerilla, Identität, Islam, Körper, Leere, Moderne, Ritual, Schamanismus, Schönheit, Subkultur, Tabu, Tradition, Transformation, Umbruch, Wüste, Zivilisationskritik, Ökologie
Zwei Generationen neuer Künstler bestimmen die Szene in Kasachstan: Die "Väter" haben Performance und Video, Installationen und Film als neue Medien entdeckt, die Söhne statten die Entwicklung mit einer kritischen Komponente aus: mit Computerkunst gegen die Umweltkrise

Von Valeria Ibraeva

VÄTER…

Die erste Hälfte der Neunzigerjahre in Kasachstan war geprägt vom Schock über den Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Gefühl einer völligen Zerstörung von Lebensgewohnheiten, einem Informationsvakuum und dem Abbruch kultureller Beziehungen. Vor dem Hintergrund einer chaotischen Wirtschaft, wild wuchernder Inflation, leeren Geschäften, fieberhaftem Geldwechseln und einer erstaunlich freizügigen Presse; vor dem Hintergrund globaler Umwälzungen, des Erscheinens von ersten Reichen, Armen und Bettlern und einer zunehmenden Kriminalität wurden erste inoffizielle Ausstellungen veranstaltet, aus deren Disharmonie die ersten heutigen zeitgenössischen Künstler hervorgingen: eine Generation, die in den Vierzigerjahren unter Stalin geboren wurde.
Ihre Kindheitsjahre fielen in eine Zeit, als die Hälfte des Landes in Lagern saß und die andere Hälfte für die Übriggebliebenen Denunziationen schrieb. Trotzdem machten gerade diese Leute, indem sie sich jeder Unfreiheit – professioneller oder kommerzieller Art – verweigerten, die ersten Schritte auf dem Weg zur Bildung einer unabhängigen kasachischen Kunst. Die Situation gestaltete sich wie in den Worten der Dichterin Anna Akhmatova: „Wenn Sie wüssten, aus welchem Kehricht Gedichte wachsen, ohne jede Scham ...“
Kunst und Kultur entwickelten sich in der Sowjetunion, nachdem die Absage an die Spielregeln der staatlichen Direktiven allmählich zu einer Tendenz wurde, auf zweierlei Ebenen. Seit den Dreißigerjahren war die Mitgliedschaft in einem Kunstverband die einzige Möglichkeit gewesen, als „künstlerisch schaffender Mensch“ anerkannt zu werden und Materialien für seinen Bedarf zu kaufen. Der Staat stellte den Künstlern Wohnungen und Ateliers zur Verfügung, versorgte sie durch den Ankauf von Werken und schickte sie auf „kreative“ Dienstreisen. Seit den Sechzigerjahren strukturierten sich die künstlerischen Prozesse immer mehr als Opposition: offizielle Kunst kontra nichtoffizielle Kunst. Die Übergänge waren jedoch fließend. Zum Beispiel existierte innerhalb des Künstlerverbands eine eigene, innere Opposition, die Kunst dieses Undergrounds aber bewegte sich auf dem Niveau von formeller Suche oder Nachahmung der zu jener Zeit verbotenen westlichen Künstler. In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurden die beiden Ebenen der Kunst offensichtlich: Das offizielle Leben verlief nach den Regeln, die der Staat aufstellte, gleichzeitig blühte eine „Küchenopposition“ auf, die mit der gegebenen Situation unzufrieden war. Manchmal gingen die Künstler von ihren Küchengesprächen zu Aktionen über, sie organisierten Gruppen zur privaten Weiterbildung, gründeten lose Vereinigungen, veranstalteten Ausstellungen in Wohnungen und Kellern.


Neue Möglichkeiten

Der Beginn der Perestroika und die darauf folgende Souveränität holte sie aus ihren Kellern und Küchen und erlaubte ihnen, sich auf einem breiteren Wirkungsfeld zu erproben. Anfang der Neunzigerjahre begannen Prozesse der Kommerzialisierung in der Wirtschaft, die zu einem der wichtigsten Stimuli für das Erscheinen einer alternativen Kunst wurden. Der Beginn der freien Markwirtschaft weichte das Staatsmonopol und den Zentralismus im Kulturbereich auf. Die beginnende Kapitalisierung und Demokratisierung zog Botschaften und Vertretungen ausländischer Firmen und folglich auch neue Käufer ins Land. Wie im Fieber entstanden unabhängige Galerien, künstlerische Gruppierungen und Vereinigungen und fielen genauso schnell wieder auseinander; bis dato unvorstellbare Ausstellungen wurden veranstaltet, die sagenhaft viele Besucher anzogen. Viele Künstler und Kritiker erhielten zum ersten Mal die Möglichkeit, nach Europa oder Amerika zu reisen.
In privaten Galerien und Salons konnte man Malerei und Skulpturen finden, die praktisch alle Kunstrichtungen interpretierten, von der mittelalterlichen türkischen Skulptur bis zu Phantasmagorien im Geiste Salvador Dalís. Diese große Bandbreite war nicht zufällig: Die Liste der „verbotenen Kunst“ war derart lang gewesen, dass die ausgehungerten Künstler nun fast zwanghaft die neuen Informationen aufarbeiteten und dabei alle sich bietenden Möglichkeiten nutzten. Viele von ihnen konnten sich anschließend nicht mehr von den lieb und gleichsam zum Eigentum gewordenen Ideen trennen, um so mehr, als sie sich von deren kommerziellem Erfolg überzeugt hatten.
Doch traf man unter den Künstlern auch höchst eigenartige Menschen, die nicht viel Geld brauchten. Sie hingen die Malerei, die ihnen kein schlechtes Einkommen beschert hatte, an den Nagel und begannen, sich mit einer in Kasachstan bis dahin absolut unbekannten Kunstrichtung zu beschäftigen: Sie machten Performances und Installationen oder drehten Filme und lösten damit ziemliches Unverständnis in der Gesellschaft aus. Es waren die ewig Unzufriedenen, die das Diktat des Künstlerverbandes ebenso zurückwiesen wie das Diktat einer kommerzialisierten Kunst: R. Khalfin, G. Thryakin-Bukharov, M. Narymbetov, V. Simakov, S. Narynov, S. Maslov, S. Bayalyev, J. und V. Vorobyev, G. Madanov wurden zu Künstlern, die eine neue Kunst in Kasachstan initiierten.


Vater der Videokunst

Anfang der Neunzigerjahre streifte ein Mann mit einer Videokamera über der Schulter durch die Straßen von Almaty. Mal sah man ihn in einem grauen Offiziersmantel, mal im olivgrünen Tarnanzug mit aufgenähten roten Fähnchen. In den verdreckten Randgebieten der Stadt gab Zhay-Zia (Pseudonym für Zhaihan Zhayageldinov) der Gesellschaft ersten Unterricht in Sachen Toleranz und Demokratie. Er stellte seine Pop-Art-Objekte auf der Straße aus und versammelte Menschen um sich, denen er über einen Telefonhörer (der mit einem Verstärker verbunden war) erklärte, dies sei Avantgardekunst, und wer nicht wolle, brauche im Prinzip auch nicht hinzusehen. Auf die ersten emotionalen Reaktionen der Polizei fragte er: „Warum darf man sich denn nicht auf der Straße versammeln? Warum soll Kunst nur im Museum sein?“ und „Warum habe ich kein Recht zu sagen, was ich denke?“ Von Zeit zu Zeit wurde er für ein bis zwei Wochen in Haft genommen. Seine einzige verkaufte Arbeit „Die Tür der Zeit“ (1988), die vollständig mit Zifferblättern von Uhren bekleidet ist, befindet sich in der Sammlung sowjetischer nonkonformistischer Kunst bei Norton Dodge in den Vereinigten Staaten.
1994 drehte er einen kurzen Film mit dem Titel „Antibutya“, der durchaus nicht realitätsfern ist: In der Firma „Butya“ läuft eine Wohltätigkeitsaktion, es werden Neujahrsgeschenke an Kinder verteilt. In der Menge drückt sich auch ein kleiner Junge herum, der keine Einladung bekommen hat. Das Warten dieses Kindes auf das Fest wird von der Rockballade „House of the Rising Sun“ begleitet. Der Clip endet mit der Vertreibung des minderjährigen Rebellen aus dem Büro der Wohltätigen. Dieser Film wurde nie auf einer Ausstellung gezeigt. Im Jahr 2000 erhängte sich Zhay-Zia. Er hinterließ eine Notiz: „Verzeiht. Ich konnte mit mir nicht klarkommen.“ Heute nennen wir ihn den „Vater der kasachischen Videokunst“.
Als „Vater der Pop-Art“ und der Installationen in Kasachstan gilt hingegen Georgyi Thryakin-Bukharov, der in seinem Werk die Repressionen unter Stalin aufgriff, ein Thema, von dem seine Familie direkt betroffen war. Aus knorrigen Stöcken und auf den Müll geworfenen Objekten konstruiert er Kompositionen, die den Schrecken wiedergeben. Die Arbeit „Replik auf den fliegenden Weißen in Karaganda“ (1998) fertigte der Künstler aufgrund seiner Eindrücke an, nachdem er die Hauptstadt des Gulag von Karaganda besucht hatte. Eine Stadt, die von unendlichen Feldern umgeben ist – den Gräbern von Millionen Gefangener.


Roter Traktor

Moldakul Narymbetov wurde in einer Bauernfamilie in Usbekistan geboren und zog in das kasachische Tschimkent. Nun war das provinzielle Tschimkent nicht gerade ein Zentrum intellektuellen Lebens, es gab weder Bibliotheken noch Videotheken, keine Vorlesungssäle, Museen oder Galerien. Oft war die Reproduktion eines aus der Zeitung ausgeschnitten Bildes von Caspar David Friedrich (einem der bekanntesten Maler in der UdSSR) Gegenstand aufmerksamsten Studiums. Narymbetov entwickelte sich dort zum Ideologen und Promoter der Gruppe „Kyzyl-Traktor“ (Roter Traktor). Die programmatische Idee der „Traktoristen“ war die Hinwendung zur archaischen Welt, zur Epoche vor dem Islam. Ihr Interesse galt Schamanen und Derwischen, deren Philosophie oft mit rituellen Handlungen dargestellt wird. So war es nur logisch, dass diese Gruppe zur Veranstaltung von Performances kam, ohne zu ahnen, dass es dieses Genre bereits seit fünfzig Jahren gab (das letzte Studienobjekt, über das die Mitglieder der Gruppe Material bekamen, war Paul Klee gewesen). Eine der Aktionen dieser Gruppe im Jahre 1995 bestand aus einer langen Reise zum Berg Kasgurt in Süd-Kasachstan, zu dessen Füßen die Künstler zusammen mit örtlichen Bewohnern Installationen aus Holz und Filz bauten, auf Musikinstrumenten spielten, die sie selber angefertigt hatten, und eine rituelle Handlung organisierten gegen Apathie und Depressionen – ganz allgemein für das von Chaos und Durcheinander angeschlagene Volk.
Traditionelle ethnische Werte (das Nomadentum als Mittel der Existenz, der Kollektivismus als Mittel des Überlebens, die Improvisation als wichtigste Methode künstlerischen Schaffens) wurden bei den „Traktoristen“ unter Nutzung nomadischer Materialien wie Leder, Holz und Filz in ästhetische Werte übersetzt. Die Strategie der Gruppe besteht darin, intuitiv, aber gleichzeitig organisch Kunst und Leben zu verschmelzen und damit den sowjetischen Begriff einer professionellen Kunst zu negieren. „Kyzyl Traktor“ gelang es, die „Export-Idee“ eines exotischen Folkloreschauspiels und die Aufwertung der alternativen Kunst für die kasachischen Offiziellen sozusagen als ureigene Volkskunst zu verbinden.
Rustam Khalfin studierte am elitären Moskauer Architektur-Institut. Seit 1979 nahm er an alternativen Ausstellungen in Moskau und Leningrad teil, in Almaty organisierte er ähnliche inoffizielle Präsentationen in seiner Wohnung. Er verkörperte die Rolle des Propheten, Lehrers und strengen Kritikers, um den sich ein Kreis von betonter Intellektualität bildete. Das Leben wurde durch Kunst substituiert. Er lief im Beuys-Hut herum, baute die Installation „Großes Glas“ und polemisierte damit gegen Duchamp. Erkundungen des eigenen Körpers führten ihn zu den französischen Philosophen der Postmoderne, wie Guattari und Deleuze sowie zu den Forschungen des Moskauer Philosophen Valery Podoroga. Als Resultat entstand ein großer Zyklus von Installationen und Environments namens „Null-Ebene. Tonprojekt“ (1998-1999). Das Interesse an der Kultur von Pferdenomaden regte ihn zum Videoprojekt „Nordische Barbaren“ an, wie die Nomaden von den Chinesen genannt wurden. Khalfin gelingt in diesem Projekt die Balance zwischen bewusst inszenierter exotisch-erotischer Export-Show und einer artifiziellen Rekonstruktion von Bräuchen.


Liebe, Dekadenz und Zynismus

Sergey Maslov wurde in der Familie eines hoch gestellten Journalisten geboren, dem, im Gegensatz zum Großteil der Sowjetmenschen, Informationen über die „Welt des Kapitals“ zugänglich waren. Da ja ein ideologischer Arbeiter seinen Feind kennen sollte, konnten die Mitglieder dieser Familie den Radiosender „Svoboda“ (Freiheit) und „Freies Europa“ hören, konnten die Zeitschriften „Amerika“ oder „England“ abonnieren. Das Leben einer Familie der Nomenklatura war versorgt und ohne Not. Dennoch wussten alle, dass eine Verletzung der Spielregeln nicht nur mit dem Verlust von Privilegien bestraft werden konnte. Die Sowjetmacht wandte die Praxis an, Unzufriedene in die Klapsmühle einzuweisen oder an „Orte, so weit, so fern ...“ zu verbannen. Sergey Maslov wählte für sich ein leichtes Leben, wie es ihm schien. Er machte seinen Doktor und wurde Hochschullehrer an der grafischen Fakultät des Pädagogischen Instituts von Semipalatinsk. Beinahe jede Woche besuchte er seine Eltern in Almaty, und mindestens einmal im Monat fuhr er nach Moskau, um verschiedene Ausstellungen anzuschauen, darunter sogar solche von Künstlern aus dem Westen.
Abgesehen vom großen Buchwissen, das er hatte, interessierte sich Maslov für diverse mystische Lehren und außerirdische Welten, weil er die eintönige sowjetische Wirklichkeit so uninteressant fand. In Moskau geriet er in eine Ausstellung von Künstlern des Moskauer Undergrounds „Stadtkomitee von Malern und Grafikern“ auf der Malaja-Grusinskaja-Straße. Er hatte große Angst, denn die Künstler von der Malaja Grusinskaja hatten eine schlechte Reputation beim KGB. Andererseits wurde er damals als Maler auf keine andere Ausstellung eingeladen, denn seine Arbeiten waren grob, rau, imitierten gleichsam Kinderzeichnungen. Es gab keine positiven Helden darin, keine hübschen Landschaften, keinen Patriotismus. Stattdessen Andeutungen von Liebe, Dekadenz und Zynismus. Und dennoch folgten keine Repressionen – die Perestroika hatte begonnen. Nun trat Maslov auch bei Ausstellungen in Almaty in Erscheinung. Einmal kam er mit einem Beerdigungskranz ins Museum. Auf der Schleife war zu lesen: „Den wegen Maslov unschuldig Gefallenen“. Ein anderes Mal setzte er mit der Performance „Der Osten – eine sensible Sache“ den Ausdruck „Der Künstler schreibt mit Blut“ ins Bild. Daraufhin wurde Sergey Maslov aus der Kunstakademie geworfen, an der er viele Jahre unterrichtet hatte. Auf der ersten Ausstellung im Soros-Zentrum für zeitgenössische Kunst von Almaty zeigte er sein aus der Zeitung herausgerissenes Porträt im Sarg mit der Erklärung, er sei aus Liebe zu der Sängerin Whitney Houston gestorben, dazu seinen fiktiven Briefwechsel mit ihr. Viele Bekannte glaubten an seinen Tod und trauerten um ihn. Jetzt arbeitet Maslov als Wachmann in der Galerie „Voyager“, bastelt an seinem Computerprojekt über Außerirdische und schreibt darüber hinaus einen elektronischen Roman über die zeitgenössische Kunst in Kasachstan.


… UND SÖHNE

Die zweite Hälfte der Neunzigerjahre brachte eine gewisse Regulierung mit sich. In der neu gegründeten Hauptstadt Astana tagte das Parlament, den Konzernen British Oil, Mobil Exxon, Chevron und Texaco gelang es, die Ströme von Öl und Geld in die richtigen Kanäle zu leiten. Die Begeisterung für Pager, Faxgeräte und Mercedes 600 flaute ab, sie wurden von Mobiltelefonen, Computern und Jeeps der Marke Cherokee abgelöst. Die Kluft zwischen Reichen, Armen und Bettelarmen vergrößerte sich. Es entstanden eine politische Opposition und ein Kampf um die Macht. Islam und Orthodoxie wurden zu offiziellen Religionen erklärt, die Presse und das Fernsehen, die in die Fänge der Medienholdings gerieten, schlugen statt des schnoddrigen Tones wieder einen offizielleren an. 1995 eröffnete die Soros-Stiftung in Almaty, British Council und Goethe-Institut nahmen ihre Arbeit auf. 1998 wurde das Zentrum für zeitgenössische Kunst der Soros-Stiftung Almaty eingeweiht, das einzige in Zentralasien. Informationen über die kulturellen Prozesse in der Welt drangen in alle Sphären des kulturellen Lebens. In dieser Zeit entstand eine neue offizielle Ästhetik. Der Staat begann neue Geschichte zu schreiben, indem er sie von den Spuren der Sowjetmacht säuberte. Die populärsten Genres der Bildenden Kunst waren nun Schlachtenszenen, Porträtmalerei und monumentale Skulpturen. Der historisch-nationale Inhalt diktierte die historisierende Form. Im Stil des Klassizismus und Barock wurden unzählige Schlachten ausgefochten, Reiter mit Königsadlern galoppierten, historische Persönlichkeiten bauten den Staat auf. Zum Beginn des 21. Jahrhunderts wurde das Land mit einer riesigen Zahl von bronzenen Denkmälern überzogen, deren häufigstes Motiv die Pferdestatue ist. Bald wird die Anzahl von Pferdemonumenten mit der von Lenindenkmälern zu Sowjetzeiten vergleichbar sein. Die klassischen kompositorischen Schemata beim Denkmal für den Kasachen Ablachan und den Usbeken Amir Timur repräsentieren in Verbindung mit den betonten ethnischen Merkmalen ein charakteristisches Attribut der zeitgenössischen Macht. Eine Besonderheit der zentralasiatischen kulturellen Landschaft besteht darin, dass dieser Prozess den ausgetretenen totalitären Schemata folgt: Ein ideologischer Fetisch wird mechanisch durch einen neuen ersetzt, der nicht weniger eintönig ist.


Zwei Schluck Freiheit

In jener Zeit erscheint in der kasachischen Kunstszene eine Generation auf der Bildfläche, die in den Sechzigerjahren geboren wurde, zur Zeit des Chruschtschowschen Tauwetters und eines relativen Liberalismus in der UdSSR. Ihr erster Atemzug war gleichzeitig ein „Schluck Freiheit“ (B. Okudzhava). Trotzdem wusste jeder von Kind an, dass der Staat ihm ein Lebensschema garantieren würde: Institut – Arbeit – Familie – Kinder – Schlangestehen – Rente. Im Fall einer erfolgreichen Karriere (für die man im Künstlerverband und Kommunist sein musste) konnte man eine Auszeichnung oder einen Orden bekommen oder sich gar ein Auto kaufen. Der zweite „Schluck Freiheit“ der nun 20- bis 25-Jährigen bestand aus Wasser – das aus Wasserwerfern im frostigen Dezember des Jahres 1986 geschossen kam. Einige von ihnen nahmen an der Studentenrevolte auf dem Platz am ZK der Kommunistischen Partei von Kasachstan teil; später bekam die Revolte in der Parteipresse das Etikett „Durchbruch des kasachischen Nationalismus“. Nichtsdestoweniger zerstörte der Zerfall der Sowjetunion den Traum einer Ausbildung in Moskau und die weitere Determinierung des Lebensweges. Die Freiheit erschien nicht schluckweise, sondern stürzte wie ein Wasserfall nieder. Nachdem sie ihre Universitätsdiplome erhalten hatten, wurden sie ohne Ausnahme arbeitslos. Allein der freie Markt ließ sie nicht untergehen: Die jungen Leute zeichneten auf der Straße, verkauften ihre Bilder, organisierten sich und gründeten Selbsthilfe-Galerien. Die Künstler dieser Generation haben einen kritischen Blick auf die Dinge, sie spüren die Notwendigkeit, über soziale Probleme zu sprechen. Sie haben nicht vor, die höhere Wahrheit in Beschlag zu nehmen, und die Kunst ist für sie kein „Tempel, sondern eine Werkstatt“ (I. Turgenyev).


Neue Derwische

Said Atabekov und Askhat Akhmedyarov waren Mitglieder der Gruppe und Galerie „Kyzyl Traktor“ (Askhat verließ sie inzwischen) und leben in Cimkent. Einmal kauften sich Said und Askhat ein Stück Brot und gingen in die Berge. Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, Noahs Arche zu finden. Einer örtlichen Legende nach landete Noahs Arche auf dem Berg Kasgurt (und nicht auf dem Ararat). Drei Tage und drei Nächte irrten sie dort herum und fanden nichts. Bis heute. Alle fünf bis zehn Kilometer trifft man hier auf Mausoleen von phantastischer Architektur. Die Reise nach Turkestan, zum Grab des Hoodschi Ahmed Jassavi, einem berühmten Derwisch und Philosophen, wird gleichsam zu einer Mekkareise (Hadsch). Dort im Süden scheint es, als ob der Boden mit Legenden durchsetzt sei. Man kann in der Erde glasierte Ziegelstückchen von Städten aus dem Altertum finden, man kann bei einem heiligen Baum Rast machen, es gibt dort Hüter von heiligen Steinen und heiligen Quellen – Schamanen, die einem treuherzig versichern, dass sie nur an Allah glauben, und es gibt richtige orientalische Basare. Einmal, noch zur Zeit der Sowjetunion, setzte sich Said Atabekov bei der Eröffnung seiner eigenen Ausstellung, in ein schönes Derwisch-Gewand gekleidet, auf den Fußboden und fing an, einen Mullah darzustellen. Die Besucher der Vernissage ließen sich bei ihm nieder und fielen in religiöse Ekstase. Danach begann der Stehempfang. Ein anderes Mal sammelte Said eine Gruppe von Künstlern um sich und lebte mit ihnen einen Monat lang in der Wüste. Sie bauten dort aus Megalithsteinen das „Observatorium der Elenden“ auf. Unweit von diesem Objekt ließ der Präsident Nazarbaev eine Stele aus Stein zu Ehren der Oberhäupter von drei kasachischen Zhusen (einer Vereinigung von Stämmen) errichten. So entstand eine kontrastreiche Raumkomposition: die Pyramide unten, der schöne Obelisk aus Marmor oben.


Asia Art

Erbossyn Meldibekov stammt auch aus dem südlichen Kasachstan. Als einer der Gründer der Künstlervereinigung „Kokseryok“ nahm er an verschiedenen Seminaren, Symposien und Ausstellungen in mehreren Ländern teil. 1997 war er auf die Biennale „Asia Art“ nach Taschkent eingeladen. Auf das Podium des Ausstellungssaals stellte Erbossyn Meldibekov zwei menschliche, von Pfeilen durchbohrte Schädel (die aus Ausgrabungen stammten) und nannte das ganze „Requiem für die Menschenrechte“. Als man ihn in den usbekischen KGB zitierte und schriftliche Erklärungen verlangte, beschrieb er treuherzig seine Konzeption, ebenso die farbliche und kompositorische Ausarbeitung seiner Installation.
Das Videoprojekt „Pol Pot“, an dem Meldibekov seit zwei Jahren arbeitet, zeigt asiatische Gesichter und lange Szenen von Quälereien an Menschen, die in die Erde eingegraben oder in Blöcke gezwängt wurden. Die Einstellungen beabsichtigen eine aufmerksame und „genussvolle“ Betrachtung. In seinen Erörterungen über das Wesen der Gewalt stellt er die lateinamerikanischen Interpreten des Kommunismus Che Guevara und Fidel Castro, den russischen Interpreten Lenin, der den totalen Terror erfunden hat, und den asiatischen Interpreten des Kommunismus, Pol Pot, den Führer der „Roten Khmer“, der den schlimmsten Massenmord organisiert hat, in eine Reihe. Nach Meinung von Meldibekov handelt es sich bei Pol Pot um einen Typus des östlichen Despoten, der der zentralasiatischen Mentalität am nächsten steht. Wenn der östliche Diktator an der Macht ist – ob von Breshnyevs, Bushs oder Gottes Gnaden – kann er mit seinem Volk alles nur Erdenkliche anstellen. Die Kunst Meldibekovs ist publizistisch, der Künstler reagiert dezidiert auf die Impulse der Zeit. Natürlich denkt er in letzter Zeit über Probleme des religiösen Fanatismus nach, die thematisch zu seinen ständigen Motiven über das Wesen der Gewalt passen.


Aitmatov und Marihuana

Ablakim Akmullayev wurde in einer armen Arbeiterfamilie geboren und gehörte zu einer Jugendgruppe von Hippies, die sich „Grünes Dreieck“ nannte und 1985 gegründet wurde. Sie machten Ausstellungen in Kellern, hörten Pink Floyd, lasen und übersetzten Gedichte. Aus dieser Gruppe gingen auch zwei der erfolgreichsten jungen Künstlerinnen Kasachstans hervor: Almagul Menlibayeva und Saule Suleymenova, ebenso der radikale Künstler Kanat Ibrahimov.
Akmullayev wollte in seinem Leben alles ausprobieren. Er reiste ins Altaj-Gebirge, nach Tadschikistan, nach Moskau und Petersburg, lebte in freien Kommunen und spielte Tamburin. Er fraß sich durch die Bücher von Chingiz Aitmatov und fuhr ins Tschujski-Tal, in die Gegend, wo Marihuana wächst. Er kam ins Gefängnis und saß drei Jahre. Dann ließ man ihn frei; seitdem macht er mit der Künstlerin Zitta Sultanbayeva Video-Art. Die letzte Arbeit der beiden heißt „Media Aitye“ (Aitye nennt man auf kasachisch einen Wettstreit von improvisierenden Sängern). Der Sänger Timur Isaliyev ließ sich hier in der Rolle eines wohlhabenden Kunden von Supermärkten und Banken filmen. Ablakim Akmullayev selbst aber ist in der Rolle eines Lastenträgers auf einem schmutzigen, mit Schalen von Sonnenblumenkernen und Plastikflaschen übersäten Großmarkt zu sehen. Europäisch saubere Straßen mit Grünstreifen und dem Glanz von Spiegelfenstern – endlich ist auch bei uns die Zivilisation eingekehrt! Die verdreckten, versmogten Arbeiterviertel jedoch – wie die zu bewerten sind, ist noch unklar: Sind sie die Kehrseite des Kapitalismus oder die Reste des Sozialismus? Vielleicht weder das eine noch das andere. Vielleicht ist in diesen Vierteln einfach eines der vielen sozialpolitischen Experimente im Gange, die schon zehn Jahre dauern. Oben und unten sind in Almaty eben nicht nur geografische Begriffe. Noch vor zwölf Jahren konnte sich kein zurechnungsfähiger Bürger der damaligen UdSSR vorstellen, dass die hier exemplarisch vorgestellten Künstler so leben und mehr oder minder tolerant behandelt werden könnten. Die Veränderungen, die heute auf dem riesigen Territorium Kasachstans vor sich gehen, tragen allerdings ambivalente Züge. Auf der einen Seite gibt es eine klare Liberalisierung. Es werden demokratische Prioritäten deklariert, das Leben der intellektuellen Elite und der Opposition ist relativ ungefährdet. Andererseits wächst die autoritäre Macht. Die Freiheitsräume für Wort und Gewissen werden eingeschränkt. Darüber hinaus werden ernstzunehmende Versuche unternommen, sogar im Internet eine Zensur einzuführen. Eine selbstherrliche Bronzestatue überzieht allmählich flächendeckend das ganze Land. Und dennoch wird hier Kunst gemacht, die lokal und allmählich sogar international zur Kenntnis genommen wird.


Nach ihrer Zeit als Cheflektorin beim Staatsverlag „Kunst“ arbeitete Valeria Ibrayeva (geboren 1955 in Taschkent, Usbekistan) als Koordinatorin der Soros Foundation Kasachstan, bevor sie 1998 die Leitung des Soros Center for Contemporary Art in Almaty übernahm. In zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigte sie sich mit der Situation der zeitgenössischen Kunst in Zentralasien, insbesondere Kasachstan. Sie ist Herausgeberin vieler Bücher, unter anderem „Art Life of Kazakhstan“ (2001), „Communication: Experience of Interaction“ (CD-ROM, 2000), „Self-Identification“ (1998), und kuratiert seit 1996 eine Reihe von Ausstellungen, die sich mit Fragen von Spiritualität, politischer Repression und neuen Formen der Kommunikation auseinander setzen. Zusammen mit Sabine Vogel kuratierte sie die Ausstellung „No Mad’s Land“ im Haus der Kulturen der Welt.


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Die Toten kommen
Von Zombies, Vampiren und gewöhnlichen Menschen – ein Manifest
Außenseiter, Erinnerung, Geschichte, Globalisierung, Grenzerfahrung, Identität, Körper, Moderne, Postmoderne, Ritual, Schönheit, Tradition, Umbruch
Die zeitgenössischen Künstler in Kasachstan kann man in drei Kategorien unterteilen: Normale Menschen, Zombies und Vampire. Doch nur die Vampire sind in der Lage echte Kunst zu machen.

Von Sergey Maslov

Die Zukunft sieht immer ein klein wenig anders aus, als wir sie uns vorstellen. Aber der Blick in die Vergangenheit lehrt uns, dass alles gesetzmäßig vonstatten geht und die Wurzeln der Zukunft in der Vergangenheit liegen. Diejenigen Künstler, die heute ernsthaft an einer zeitgenössischen Kunst arbeiten, haben sich mit ihrem ganzen bisherigen Leben darauf zubewegt. Wer Kunst macht, gehört in eine der drei folgenden Kategorien: a) Vampire, b) Zombies, c) gewöhnliche Menschen.

Handwerker

Gewöhnliche Menschen brauchen keine Kunst. Was Kunst ist, können sie so wenig erklären wie der Frosch im Brunnen den Ozean. Unter den Künstlern gibt es viele gewöhnliche Menschen. Für sie ist die Kunst eine Abbildung, der Schatten des Lebens, „eine hübsch angemalte Oberfläche, wie ein Keramikmuster von einer Wand aus Damaskus“. Einen Menschen, einen Baum oder ein Pferd zu zeichnen stellt eine dem Schneider- oder Schusterhandwerk vergleichbare Arbeit dar. In dieser Kategorie von Künstlern unterscheiden sich die einzelnen nur durch das Niveau ihres handwerklichen Könnens. Man kann sie das Proletariat der darstellenden Kunst nennen. Der sozialistische Staat hatte Bedarf an solchen Künstlern. Er zog sie heran, bildete sie aus, verhätschelte und bestrafte sie, er schuf für sie den „Künstlerverband“ und erklärte ihre Kunst zur besten, zur fortschrittlichsten.
Heute, in einem neuen Staat mit anderer Orientierung, braucht sie keiner mehr. Die Welt ist in arm und reich zerfallen. Den Armen steht der Sinn nicht nach Kunst, die Reichen wollen eine moderne oder eine modische, am besten beides zusammen. In ihrem Unglück klagen die einfachen Künstler sowohl den Staat als auch die anderen, erfolgreichen Künstler an. Zu sowjetischen Zeiten galt ideologische Unzuverlässigkeit als eine der schwersten Beschuldigungen. Und so werden nun die erfolgreichen Künstler bezichtigt, es fehle ihnen an Geistigkeit, sie biederten sich dem Geschmack der neuen Bourgeoisie an, entsagten der nationalen Tradition, seien unprofessionell und zynisch.


Gefallene Engel

Zombies sind Tote, die vorgeben, lebendig zu sein. Die Toten wissen, was das Leben ist, doch lebendig zu werden, gelingt ihnen nicht. So muss die Verwesung ihren Lauf nehmen, das Fleisch abfaulen, das Auge trübe werden und auslaufen. Die Zombie-Künstler verstehen die Kunst der Vergangenheit, aber die der Zukunft bleibt ihnen verschlossen wie das Leben nach dem Tod. In der Mythologie gelten die Zombies als gefallene Engel, denen der Schöpfer als Strafe für ihre Sünden den Zugang zu neuen Energieströmen versperrt hat. Aber sie wissen, worum es geht. Sie erinnern sich daran, dass nichts süßer ist als diese göttliche Energie, diese Freude an schöpferischem Tun. Die Zombies versuchen die echte Kunst nachzuahmen, sie schaffen nach Mustern und Vorbildern, die auf dem internationalen Kunstmarkt populär sind. Finanziell haben sie den größten Erfolg. Um sich als vollwertig zu erleben, brauchen die Neuen Kasachen und Neuen Russen, die zu Hause leben wollen, das Gefühl, sie seien von Künstlern umgeben, deren Rang der englischen, französischen, deutschen oder amerikanischen Kunstszene nicht nachsteht. Ihre Geschäftspartner müssen diese Illusion aufrechterhalten, andernfalls würde ihre Position auf dem lokalen Markt instabil oder bräche gar zusammen. Die Zombies begreifen, dass ihre Kunst keine wahrhaft zeitgenössische ist, dass sie einem Wasser gleicht, das den Durst nicht stillt.


Energieströme

Nun zu den Vampiren. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, folglich auch mit schöpferischen Fähigkeiten. Allerdings sind diese Fähigkeiten den Erdenwesen nicht einfach gegeben. Kreative Persönlichkeiten schöpfen sie aus dem kosmischen Ozean, mit dem sie über Energieströme verbunden sind. Solche Menschen werden in der esoterischen Mythologie Vampire genannt, denn sie besitzen im Vergleich zu den anderen mehr Energie und können sie stets wieder auffüllen. Wenn die frühen Deutungen der Welt besagten, die Vampire tränken Blut, so war dies eine symbolische Erklärung für deren energetisches Berauschtsein. Vampire sind diejenigen, die nicht tot sind. Es sind Menschen, die lebendiger als alles Lebendige sind – ob Tiere oder einfache, gewöhnliche Artgenossen. Die Vampire schaffen ein Werk, solange sie unbeirrt der ihnen auferlegten Mission nachgehen. Weichen sie von ihrem Weg ab, so lässt der Energiezufluss nach oder kommt zum Versiegen. Umgekehrt fließt ihnen um so mehr Energie zu und wird ihre Kunst um so bedeutender, je enger sie in den Schaffensprozess verwoben sind. Der gewöhnliche Mensch empfindet gegenüber dem Schöpfer und ebenso gegenüber dem Vampir eine unerklärliche Angst. Der Schöpfer erscheint als Bedrohung der Stabilität, aber Stabilität führt zur Entropie. Der Zombie hasst den Schöpfer, da dieser besitzt, was ihm fehlt; es handelt sich hier um eine Art „Kastratenkomplex“.


Unbekannte Neuigkeiten

Kehren wir nun zum Anfang des Artikels zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg befass-te sich in Kasachstan nur ein Künstler mit wirklich zeitgenössischer Kunst: Sergey Kalmykow. Er veranstaltete Performances und schuf Objekte. Man hielt ihn für verrückt. Die übrigen im Bereich der Avantgarde operierenden Künstler orientierten sich an der klassischen Moderne der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Dank Perestroika und Glasnost überflutete ab 1985 eine Unmenge bis dahin unbekannter Neuigkeiten die Köpfe der Künstler und Kunstwissenschaftler. In Moskau entstand die Zeitschrift „Hudoshestveny shurnal“ (Kunstjournal), die regelmäßig über Theorie und Praxis der zeitgenössischen Kunst berichtet, und auch im Fernsehen tauchten Informationen über eine neue, schwer verständliche, aber interessante Kunst auf. Und schließlich kam Sergey Soloyows Kultfilm „Assa“ auf die Leinwand, in dem der Leningrader Contemporary-Art-Künstler Sergey Bugayev auftrat. Diese Dinge erregten bei einigen kasachischen Vampiren lebhaftes Interesse. Sie begannen, das Neue ernsthaft zu studieren, versuchten, eine eigene Kunst zu schaffen. Und mit einem Mal stellte sich heraus, dass sie dieser Art von Kunst bereits hie und da nachgegangen waren, ohne sie allerdings als solche zu erkennen und zu präsentieren. Kunst operiert mit Bewusstsein und Gefühlen; zu diesen lässt sich leichter vordringen über Handlung (Performance, Happening) oder bewegte Bilder mit Ton (Video) als über statische Darstellungsformen (Gemälde, Zeichnung, Foto). Die kasachischen Künstler wollten nun wissen, wie interessant und professionell das war, was sie herstellten. Eigene Contemporary-Art-Theoretiker gab es in Kasachstan nicht, und so mussten sie das Urteil ausländischer Experten abwarten. Überraschend für alle fiel es hoch aus. Ein Brite kaufte ein Objekt von Jelena Vorobyova, der berühmte Moskauer Galerist Marat Gelman lud Kanat Ibragimov ein, das „Hudoshestveny shurnal“ brachte eine Sondernummer über die kasachische zeitgenössische Kunst heraus und Amerikaner empfahlen die Eröffnung eines Zentrums für moderne Kunst in Almaty (dem früheren Alma-Ata). Es begann eine stürmische Zeit, man trat sich gegenseitig auf die Füße. Die Contemporary-Art-Künstler befreundeten sich mit ihresgleichen, standen in regem Kontakt, tauschten Bücher und Zeitschriften aus, betrachteten gemeinsam Videos über zeitgenössische Kunst, veranstalteten Diskussionsrunden. Drei Galerien – „Voyager“, „Asia Art“ und „Kok-Serek“ – entwarfen ein Projekt und bekamen den Zuschlag, ein internationales Symposium durchzuführen. Aus diesem „Art-Diskurs 97“ ging ein gleichnamiger Katalog hervor, der allen internationalen Standards entsprach und in westlichen Fachkreisen kursierte, wo er auf unverkennbares Interesse stieß. Auf der Landkarte der zeitgenössischen Kunst war ein neues Land aufgetaucht: Kasachstan.


Nachahmungsversuche

1998 wurde dann in Almaty das Soros-Zentrum für zeitgenössische Kunst eröffnet. Das belebte den Informationsfluss. Zeitschriften, CD-ROMs und Videokassetten aus beinahe der ganzen Welt trafen ein, die Künstler erhielten Zugang zum Internet und erfuhren von Ausstellungsterminen. Die kasachischen Künstler beteiligten sich an internationalen Projekten. Und schließlich fand im Jahr 2000 die wegweisende Internationale Ausstellung zeitgenössischer Kunst in Almaty statt. In der Presse gab es eine Fülle von Artikeln, die voller Interesse die zeitgenössischen Künstler und ihre Werke besprachen. Da begannen allmählich die Zombies, aus ihrem Schlaf zu erwachen; sie fingen an zu begreifen, dass der Contemporary Art die Zukunft gehört oder sie zumindest die führende Strömung der Gegenwart ist. So unternahmen sie die ersten ungeschickten Nachahmungsversuche, wofür das von Filatov organisierte internationale Kunstfestival als Beispiel dienen kann. Und schon blättern die Zombies die Zeitungen durch, gehen zu Contemporary-Art-Ausstellungen und bitten den Präsidenten, ein Museum der modernen Kunst zu eröffnen. Ehe die Toten sich einer Sache zuwenden, möchten sie ihren Friedhof sichern. Der Vormarsch der Zombies steht kurz bevor und lässt sich nicht vermeiden. Die Geschichte wiederholt sich. Alles geht vonstatten wie in den Achtzigerjahren während der Modernismus-Welle. Die Toten halten zweitrangige Personen hoch, und setzen sich entweder selber auf den wichtigsten Sessel oder machen aus einem Vampir einen Toten und lassen sich neben ihm fotografieren.
Auf dem internationalen Markt wird dem Zombie kein Erfolg beschieden sein. Die maßgeblichen kunstinteressierten Kreise mögen keine Surrogate aus der „Dritten Welt“. Das Soros-Zentrum wird schließen, und an seiner Stelle werden zwei staatliche Ausstellungshallen auftauchen, bestückt mit der Kunst der Zombies. Die kasachische Contemporary Art wird eine Kunst für den Hausgebrauch und ein „Demokratieindikator“ für die Opposition werden. Allmählich werden die einfachen Menschen, die vergeblich auf die Rückkehr des „Realismus“ gewartet haben, sich an diese neue Kunst gewöhnen. Aber die Ausstellungen werden wenige Besucher anziehen, denn sie werden noch uninteressanter sein als heute die Ausstellungen des Künstlerverbandes. Die Vampire hingegen werden per Internet mit Ausstellungsmachern und -organisatoren Kontakt aufnehmen und sich im Ausland präsentieren.

Deutsch von Eveline Passet


Sergey Maslov, 1952 in Kasachstan geboren, war Dozent an der grafischen Fakultät des Pädagogischen Instituts von Semipalatinsk. Schon sehr früh dienten ihm Performances und Aktionen als künstlerische Ausdrucksmittel. Nachdem seine Arbeit zunehmend in Widerspruch zur offiziellen Staatslehre geriet, musste er die Kunstakademie verlassen. Maslov lebt heute in Almaty. Außer in Kasachstan stellt er in Frankreich, Russland und Deutschland aus. Derzeit ist er Wachmann in der Galerie „Voyager“, beschäftigt sich mit einem Computerprojekt über Außerirdische und schreibt einen elektronischen Roman über die zeitgenössische Kunst in Kasachstan.


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Die usbekische Postmoderne
Mythische Fundamente, sozialistischer Überbau und globaler Markt
Identität, Moderne, Postmoderne, Schönheit
Trotz der offiziellen Doktrin des sowjetischen Realismus konnten viele usbekische Künstler die Verbindung zu ihrer eigenen kulturellen Tradition bewahren. Alte Fresken, religiöse und philosophische Lehren, das esoterische Wissen der Sufis, die alten Kulte und mythisch-poetischen Vorstellungen waren für die Künstler das Fundament, von dem aus sie nach einer ethnokulturellen Identität suchen konnten.

Ahmedova Nigora

Bei aller Aufmerksamkeit, mit der der kulturelle Dialog zwischen Ost und West im 20. Jahrhundert verfolgt wurde – die zentralasiatische Kunst kam darin nicht vor. Die besondere historische und politische Entwicklung hatte zur Folge, dass die "Insel des sozialistischen Asiens" vom internationalen künstlerischen Diskurs weitgehend ausgeschlossen war. So ist bis heute kaum bekannt, dass gerade hier die "Begegnung" beider Zivilisationen stattfand und zum ersten Mal eine Synthese von westlicher und östlicher Kultur versucht wurde, wenn auch überstürzt und von oben gelenkt.
Die Entwicklung der usbekischen und mittelasiatischen Kunst war von zahlreichen Katastrophen bestimmt. Zeitweise schien es, als würden die dramatischen historischen und politischen Umbrüche zum Verlust der eigenen Wurzeln führen. Die Völker der Region, zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits kolonisiert und in den Jahren nach 1917 in die Sowjetunion eingegliedert, wurden von revolutionären Umwälzungen betroffen, die mit der traditionell religiös geprägten Lebensordnung brachen. Nachdem die Ausübung jeglicher religiösen Praxis untersagt worden war, wurde auch die autochthone Kultur mit Verboten belegt. Auf diese Weise aus der Geschlossenheit eines östlich-muslimisch und nomadisch geprägten Lebenszusammenhangs gerissen und in einen russisch-europäischen Zivilisationsraum gezwungen, erlebte die einheimische Kultur einen Einbruch, der sie bis an den Rand der Selbstauflösung brachte. Künftig bestimmten die von oben verordnete Anpassung an europäische Institutionen und Kunstgattungen sowie die Tendenz, das "Eigene" durch das "Fremde" zu ergänzen, die gesamte weitere Entwicklung der Kunst.
Zudem wurde vieles sowohl aus der einheimischen wie aus der europäischen Kunsttradition nicht "in Reinform" rezipiert, sondern in einer sowjetideologisch verkürzten Version. Auf diese Weise war die mittelasiatische Kunst jener Jahre in gewisser Weise doppelt isoliert: Weder konnte sie ihr eigenes jahrhundertealtes religiöses, philosophisches und künstlerisches Erbe in vollem Umfang fortführen, noch konnte sie an der Entwicklung globaler künstlerischer Prozesse teilhaben.


Eigene Sichtweise

Ungeachtet der offiziellen Doktrin des sozialistischen Realismus gelang es dennoch vielen usbekischen Künstlern, die Verbindung zur einheimischen Kultur nicht abreißen zu lassen und eine eigene Sichtweise zu bewahren. Freilich ist die Überformung der usbekischen Kunst, die die jahrhundertelange natürliche Entwicklung der östlichen Kultur zerstörte, auch heute noch spürbar. So kreisen seit der staatlichen Souveränität zahlreiche Aktivitäten um das Thema politischer und kultureller Selbstbehauptung. Fragen des historischen Gedächtnisses und der Wiedergeburt nationaler Werte fanden großen Anklang und wurden zum zentralen Motiv bei der Suche nach einem neuen Selbstverständnis. Angesichts der Erfahrungen der Vergangenheit, in der Ethnozentrismus und Traditionsverachtung einander nicht ausschlossen, sind Dringlichkeit und Pathos, aber auch gelegentliche Entgleisungen im Ausdruck nachvollziehbar.
Der Minderwertigkeitskomplex gegenüber der eigenen Kultur musste überwunden werden. Zu Beginn der Neunzigerjahre richtete sich das Interesse der usbekischen Künstler daher ausschließlich auf die wieder entdeckten einheimischen Traditionen. Alte Fresken, religiöse und philosophische Lehren, das esoterische Wissen der Sufis, die alten Kulte und mythisch-poetischen Vorstellungen – all dies wurde für die Künstler zu einem Fundament, von dem aus sie nach einer ethnokulturellen Identität suchen konnten. Diese wiedergewonnene, Sinn stiftende Basis wurde in Verbindung gebracht mit bereits vorhandenen Zeichensystemen. Die Künstler entlehnten Symbole aus der traditionellen Kultur und brachten sie in Dialog mit den ästhetischen Ideen der klassischen Moderne. Die Möglichkeiten und Grenzen des Pluralismus auszuloten bedeutete für die usbekischen Künstler der frühen Neunzigerjahre vor allem, sich ungehindert den nun frei zugänglichen westlichen Strömungen des 20. Jahrhunderts zuzuwenden. Künstler wie Dshalal, Umarbek, Nur, Ibragimov, Akhmadaliyev, Kadyrov, Usmanov und Khakimov haben die Kunst jener Jahre maßgeblich geprägt. Sie alle bemühten sich, eine Entsprechung zwischen dem Neugeschaffenen und dem Bestehenden zu finden und damit die Harmonie von Welt und Natur sichtbar zu machen.


Usbekische Postmoderne

Die postmodernen Prinzipien von Variation, Ironie und der Evokation von Vergangenheit verflechten sich auf komplexe Weise mit dem Gedanken einer schöpferischen Umarbeitung des traditionellen Erbes. Die Besonderheit der usbekischen Postmoderne besteht freilich darin, dass sie nicht auf eine Avantgarde folgt, sondern auf den sozialistischen Realismus und die verschiedenen Formen des "nationalen Stils", welche immer noch einen großen Einfluss auf die Kunstpraxis ausüben. So bleibt ungeachtet eines stilistischen Variationenreichtums das Bemühen um wirkliche Innovation bislang nur schwach ausgeprägt. Kennzeichnend dafür ist das Festhalten an einem traditionellen Stilkanon, der sich in Selbstreferenz und der Wiederholung von Sujets und Formen äußert und die Entwicklung neuer bildnerischer Konzepte eher hemmt als fördert. Zudem fehlte dieser Kunst eine nihilistische Tradition – eine Umwertung der Werte. Das Bedürfnis der Avantgarde, künstlerische Unabhängigkeit auszudrücken, wuchs in unserem Kontext nur sehr zögerlich. Ende der neunziger Jahre folgte die usbekische Kunst aber doch wieder traditionellen Vorstellungen und drohte dadurch, in stilistischer Gleichförmigkeit und ritueller Veräußerlichung zu erstarren. In der internationalen Kunstszene gelten die explizite Thematisierung von Problemen und die Betonung kultureller Eigenheiten allgemein als überholt. Innovationen im Bereich der elektronischen Medien ziehen eine Ent-Örtlichung künstlerischer Konzepte nach sich. Als Ausdruck nationaler Selbstfindung hat die Kunst ohnehin längst abgedankt. Nur schöpferischer Individualismus ruft heute auf internationaler Ebene Interesse hervor und wird als zeitgenössisch eingestuft.
In Usbekistan aber nimmt die Kunstentwicklung trotz einer gewissen künstlerischen Freiheit einen überaus widersprüchlichen Verlauf. Auf der einen Seite finden sich berühmte Künstler, die die Sicherheit ihrer bisher erreichten Anerkennung nicht um einer neuen Suche willen aufgeben wollen. Auf der anderen Seite gibt es eine junge, aber eher passiv verharrende Künstlergeneration, deren Entfaltung so langsam vor sich geht, dass ihr Anschluss an eine sich rasch wandelnde Welt in Frage gestellt scheint. Andererseits hat jede Kultur das Recht auf eine eigene Entwicklung, die nicht notwendigerweise sofort auf politische Veränderungen folgen muss, sondern mit etwas Verspätung einsetzen kann.


Orientalische Exotik

Viele Aspekte der usbekischen Kunst lassen sich mit dem langwierigen wirtschaftlichen Transformationsprozess erklären. Die Regierung, welche weiterhin die einzige Förderinstitution der Kunst ist, beschränkt sich auf die Sicherung offizieller Programme sowie die Finanzierung der Akademie der Künste und ihrer Ausstellungsorte. Das Fehlen moderner nichtstaatlicher, unabhängiger Kultureinrichtungen macht sich ebenso negativ bemerkbar wie der Mangel an Kunstgalerien und Kuratoren, das heißt insgesamt einer lebendigen Szenerie, in der sich zeitgenössische Kunst entwickeln könnte. Nur selten werden innovative Einzelaktivitäten vom Soros Fund gefördert. Hinzu kommt, dass nur wenige Künstler begriffen haben, dass die usbekische Kunst sich in den globalen Prozess integrieren muss. Ihre Kritik richtet sich insbesondere gegen eine Kommerzialisierung, welche die nationale Kunst diskreditiert, insofern sie orientalische Exotik ausschlachtet und Elemente von Kitsch und Souvenir in die Kunstproduktion mit einbringt.


Ein Präzedenzfall

Vyakheslav Akhunov gilt inzwischen als führender Kopf dieser Bewegung. Bereits 1987 veranstaltete er mit "Himmelsleiter" das erste Happening in Usbekistan. 1991 präsentierte er "Andachtsort", eine Installation aus Stein. Breite Zustimmung fand erstmals seine Projektidee "Sand des Vergessens" aus natürlichen Materialien, die im Jahr 2000 den großen Preis der "Meisterklasse"-Ausstellung im kasachischen Almaty gewann. Im Jahre 2001 schuf Akhunov zusammen mit einem weiteren Künstler der Avantgarde, Usmanov, das Environment "Weg", in welchem sie auf alle herkömmlichen visuellen und stilistischen Merkmale verzichten und eine universelle künstlerische Sprache anstreben. Mit ihrer Projektidee "Der Sieg des Kosmos über das Chaos" beleuchten sie den Grundbestand alter Mythen neu, indem sie strukturelle Verwandtschaften zwischen den verschiedensten Kulturen, Kunstgattungen und Konzepte herausarbeiten. Was Akhunov und Usmanov hier vorstellen, ist für die usbekische Kunst ein Präzedenzfall. Erstmals wurde der Übergang vom traditionellen bildnerisch-plastischen zum visuell-räumlichen Denken vollzogen. Beide Künstler sehen die Installation als ideales Genre der zeitgenössischen Kunst an. Ihre Reflexionen über die Suche nach dem Sinn des menschlichen Daseins verweisen auf eine stark östlich geprägte Weltanschauung, nach der Mensch und Natur in einen gemeinsamen Lebenszusammenhang eingebunden sind und in der sich der Mensch den Regeln der Natur unterwirft.
Die Hinwendung einzelner Künstler zu Ausdrucksformen der Avantgarde erfuhren auf der ersten großen internationalen Kunstausstellung, der "Ersten Biennale von Taschkent", einen deutlichen Schub. Obwohl die Biennale im Oktober 2001, also nach den tragischen Ereignissen in Amerika stattfand, kamen Künstler und Kunstkritiker aus nicht weniger als zwanzig Ländern in die usbekische Hauptstadt. In seinem Beitrag zur Biennale verbindet Akhunov den ökologischen Ansatz mit sozialkritischen Ideen und Reminiszenzen an Konzeptkunst und Pop-Art. Seine Vorstellung von Wüstenlandschaft übersetzt er in Bilder und Formen, die auf das Essenziell-Symbolische zurückgeführt sind und in die ein "Wirklichkeitseffekt" eingefügt ist. Das zentrale Motiv sind Barchane (Wanderdünen), die als Installation, Bild und Objekt vielfach variiert werden.
Die zeitgenössische usbekische Kunst ist von einem zunehmenden Individualismus sowie einer bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur geprägt. Die Zeit ist jetzt reif, der schöpferischen Fantasie zu vertrauen und die bis an die Grenze gehende künstlerische Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen.

Deutsch von Eveline Passet


Nigora Akhmedova, geboren 1955 in Taschkent, Usbekistan, machte schon bald nach ihrem Abschluss an der Kunstakademie 1988 im heutigen St. Petersburg als kritische Bebachterin der zeitgenössischen Kunst in Usbekistan auf sich aufmerksam. Derzeit leitet sie das Kunsthistorische Institut in Taschkent, ist künstlerische Direktorin der Zentralasien-Biennale und Herausgeberin einer Kunstzeitschrift.