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Der Druck des Kolonialismus
Über das besondere Verhältnis von Macht und Musik
Alltag, Alter, Angst, Anti-Apartheid-Bewegung, Antisemitismus, Armut, Außenseiter, Buddhismus, Candomblé, Christentum, Diktatur, Erinnerung, Geschichte, Grenzerfahrung, Islam, Kolonialismus, Macht, Mythos, Zensur, orale Tradition
Schon immer bestand zwischen Macht und Musik eine besondere Beziehung. Gerade in Zentralasien mit seiner langen Geschichte russischer und sowjetischer Intervention ist dies deutlich zu beobachten. Die Einführung westlicher Notationen hatte – wie die Einführung neuer Alphabete beziehungsweise Sprachen – einen direkten Einfluss auf die Tradition. Ebenso die sowjetische Kollektivierung der Musiker in Orchestern gegenüber der solistischen Tradition der Nomaden.

Von Jean During

Schon immer hat sich die Macht für die Musik interessiert und für die Wirkung, die sie mit ihrem Verführungs- und Kommunikationspotenzial auf die menschliche Seele ausübt. Das Verhältnis, das die Musiker zum Politischen unterhalten – ob sie nun im Dienste des Volkes oder eines Mäzens stehen – ist weithin bekannt und im Osten besonders augenfällig. Dennoch muss man unterscheiden zwischen den Veränderungen, die von innen her geschehen – man kann sie „natürlich” nennen, wie zum Beispiel die Anpassung an neue Situationen oder die Antwort auf neue ästhetische Bedürfnisse – und den Veränderungen, die aus der direkten und autoritären Einwirkung außermusikalischer Instanzen resultieren.
In Zentralasien sind die offensichtlichsten Veränderungen nicht von innen her oder durch einen banalen Prozess der Akkulturation geschehen, sondern von außen, durch den Druck des Kolonialismus, der sozialistischen und nationalistischen Ideologie. Zunächst war da der russische Einfluss über den Umweg der Musikschulen, die Einführung neuer Instrumente und den Prozess der Akademisierung der alten Instrumente, Techniken und Formen. Später haben die Zensurmechanismen das musikalische Erbgut selbst verändert. So wurden die Epen der Nomaden, deren historische Themen vom Animismus durchdrungen waren, auf den Index gesetzt, Sufi- und Schamanenriten wurden unterdrückt, religiöse Themen aus klassischen Liedern und Volksgesängen verbannt. Zwischen 1956 und 1959 wurde die traditionelle usbekische Musik ganz einfach verboten und offiziell einem Joch unterworfen, das ebenso radikal war wie das des Taliban-Regimes. Dies ging sogar so weit, dass man meinte, die traditionelle Musik durch westliche rhapsodische Formen ersetzen zu können. Wenig später praktizierte das kommunistische China eine noch dramatischere Form der Unterdrückung, die die Träger fast aller Kulturtraditionen im Visier hatte und bedrohte.
Die großen politischen Veränderungen, die in Zentralasien seit anderthalb Jahrhunderten vor sich gehen, haben bedeutende Reformen in zwei benachbarten Bereichen mit sich gebracht: der Sprache und der Musik. Der Grund dafür liegt darin, dass sowohl die Melodie als auch der Text eines Liedes Zeichen der Identität sind und sich somit für deren Manipulation eignen. In beiden Fällen geht es darum, Töne festzuhalten und zu transkribieren, um sie in eine offizielle Form zu bringen, was zu Konflikten zwischen den Bräuchen und einem mehr oder weniger willkürlichen System führt. Die Parallelen zwischen den Notenschriften und den Reformen des Alphabets in Zentralasien sind verblüffend.
Verschiedene Notenschriften haben im Einflussbereich der Türkei seit dem 18. Jahrhundert das Licht der Welt erblickt, die zeitlich jüngste um 1880 in Choresm. Da man in arabischer Schrift schrieb, hielt man die Musik in einer Weise fest, die nichts mit der westlichen Musiklehre gemein hatte. Als man später versuchte, das Usbekische, Tadschikische und Azeri zu transkribieren, begann man auch, die Musik in einem System aufzuschreiben, dass ihr genau so fremd war wie die lateinischen oder kyrillischen Buchstaben den Turksprachen und den iranischen Sprachen. In beiden Fällen wurden feine Nuancen verwischt: auf der einen Seite durch eine vereinfachte Phonologie, auf der anderen durch den Gebrauch der zwölf Noten des westlichen Systems.


Sprache und Idiom der Musik

Die Frage der Sprache stellt sich auf besondere Weise im usbekischen Buchara, wo der klassische Maqom-Zyklus ursprünglich persisch ist. In den 20er-Jahren, also nach dem Sieg der Sowjets, bat Kulturminister Abdura ’uf Fitrat, ein bekannter modernistischer Intellektueller, einen russischen Musikwissenschaftler, den Schaschmaqom von Buchara aufzuschreiben. Erstaunlicherweise enthält die Transkription, die 1927 erschien, kein einziges Gedicht. Manche sagen, dass Fitrat, als er merkte, dass alle Texte auf Persisch waren, deren Transkription untersagte, denn das war nicht im Sinne der Zwangsusbekisierung der neuen Republik. Diese Sichtweise ist jedoch nicht die der usbekischen Historiker, nicht einmal derjenigen, die aus Buchara stammen: Sie argumentieren, dass Fitrat, ein großer Kenner, genau wusste, dass der Schaschmaqom ausschließlich auf Persisch gesungen wurde. Ihnen zufolge hat er auf die Niederschrift des Textes verzichtet, weil die persische Schrift von rechts nach links und damit umgekehrt zur Notenschrift verläuft. Die Diskussion bleibt offen. Es ging wahrscheinlich aber auch darum, die Festlegung dieser Transkription zu verhindern, um den Boden für die usbekische Version zu bereiten, die er wünschte. Tatsächlich bestellte Fitrat bei Yunus Rajabi eine Version auf der Grundlage usbekischer Gedichte, die schließlich dreißig Jahre später fertig war. Diese Version ist heutzutage außerhalb von Buchara und Tadschikistan üblicherweise verbreitet. Letzlich hat sich dieses eindrucksvolle Repertoire in zwei Varianten gespalten: in eine persische und eine usbekische. Muss man daraus schließen, dass es sich hier um die Auswirkung offizieller Direktiven handelt, deren Ziel es ist, ein Gefühl der nationalen Zugehörigkeit zu erwecken nach dem Prinzip „eine Sprache, eine Musik”? Nein, denn selbst wenn die Usbekisierung des Repertoires der aktuellen Politik diente, entsprach sie einem reellen Bedürfnis, hervorgerufen durch den natürlichen Rückgang des Persischen beziehungsweise des ihm verwandten Tadschikischen (allerdings mit Nachdruck beschleunigt durch die Usbeken). Ohne dieses Bedürfnis wäre das Publikum nicht gefolgt, und die persische Version hätte dominiert. Andererseits ist es offensichtlich, dass sich der Wandel unter dem Druck der Direktiven von oben zunehmend zuspitzt.


Die Sprache der Gefühle

Bis vor hundert Jahren definierte man sich als Bürger dieser oder jener Stadt und nicht als Tadschike oder Usbeke, und dies ganz gleich, ob man Muslim war oder Jude. In den großen Städten, vor allem in Samarkand und Buchara, sprach man Persisch beziehungsweise Tadschikisch oder Usbekisch. Noch heute werden – obgleich die Bucharer besser Usbekisch sprechen – alle Hochzeitslieder auf Tadschikisch gesungen, das so die Sprache der Gefühle und Emotionen bleibt. Umgekehrt werden die offiziellen Ansprachen und die Glückwünsche der Fest-Conférenciers auf Usbekisch gehalten. Man spricht Usbekisch und singt Tadschikisch. Die doppelte Kultur hat sich also in der Privatsphäre erhalten. Man versteht daher, dass die Musiker unter dieser Dichotomie nicht zu leiden scheinen, und in Buchara und Samarkand singen und komponieren die meisten von ihnen gleichermaßen in beiden Sprachen, um allen Publikumskreisen gerecht zu werden. Letztlich existiert etwas wie ein Gleichgewicht zwischen den kulturellen Strategien, dem passiven Widerstand und der reellen Nachfrage des Publikums.
Während der Sowjetzeit war die allgemeine Situation in etwa gleich, trotz der Krisenmomente, die die traditionellen Musiken zwischen 1956 und 1959 durchgemacht haben. Die Musiker vermitteln nicht den Eindruck, als seien sie von Direktiven vernichtet worden, die gegen ihre Überzeugungen und Interessen gegangen wären. Zum Beweis kann angeführt werden, dass von den 60er-Jahren bis zum Ende der Sowjetunion das künstlerische Niveau hoch war. Die besten Künstler wurden aufgenommen, auf Schallplatten veröffentlicht, im Rundfunk ausgestrahlt, gut bezahlt und mitunter privilegiert. Heutzutage trauern viele Musiker dieser schönen Zeit nach. Dennoch ist das Bild, das man im Westen gewonnen hat, das eines erstarrten, akademischen Musiklebens, das von seinen spirituellen Wurzeln abgeschnitten wurde.


Kollektivierung als Machtausübung

Der Grund dafür ist, dass der wirkungsvollste Effekt der Musikpolitik der sowjetischen Welt zweifellos die Absonderung der individuellen Ausdrucksweisen zugunsten der kollektiven war. Dieser Prozess wird vergleichsweise besser toleriert im Rahmen der städtischen gelehrten Traditionen wie dem Maqom, solange er vernünftige Grenzen nicht überschreitet. Im Kontext der Nomadenmusik, die in ihrem Wesen rein individuell ist, kann er jedoch schnell zum Tod eines Repertoires führen. Tatsächlich wurden die kasachischen Lautenspieler – Bewahrer eines bemerkenswerten und äußerst erlesenen Repertoires – jahrelang zurückgewiesen und erniedrigt durch die Kulturverwalter, die ausschließlich diejenige Musik anerkannten, die auf dem kollektiven symphonischen westlichen Modell basierte. So kam man zu Ensembles mit Dutzenden von Lauten und Geigen, die ein- und mehrstimmig zu Partituren erstarrte Melodien spielten.
Das Unterfangen der Kollektivierung geht immer von Menschen aus, die im Besitz von Macht sind. In Bezug auf die Nomaden ist der staatliche Kontrollwille noch offensichtlicher: Totalitäre Regime versuchen immer, die nomadische Komponente durch Sesshaftmachung zu neutralisieren. Aus rein ästhetischen Gründen käme es Musikern selbst niemals in den Sinn, Ensembles zu bilden – außer jenen, die zeigen möchten, dass sie Macht haben. In diesem Fall kann ihre Motivation sein, das Publikum zu beeindrucken, indem sie eine Hauptrolle spielen, ganze Truppen mobilisieren, befehligen und entlohnen können. Diese Fälle sind allerdings selten, und meist geht die Zusammenstellung großer Orchester von Kulturverantwortlichen aus.


Die Wiederkehr der Solisten

In den meisten Kulturen Zentralasiens wurden die Solisten immer in höchstem Maße verehrt, ob es sich nun um Sänger oder Instrumentalisten handelte. Diese Verehrung war zum Teil so stark, dass manche Kulturen der Kollektivierung widerstanden. Ein besonders exemplarischer Fall ist Aserbaidschan, wo sich die traditionelle Zusammensetzung einer Musikergruppe nie verändert hat: ein Sänger mit Schlaginstrument, eine Tar-Laute und eine Kamanche-Geige. Die gleiche individualistische Tendenz bringt die Kasachen und Kirgisen zu persönlichen Ausdrucksformen, die im Herzen ihrer Traditionen wurzeln. So hat man mit dem Ende des Kommunismus und der neu gewonnenen Unabhängigkeit die Solisten- und Barden-Wettbewerbe wieder zu Ehren kommen lassen. Gleichzeitig wurden die Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts in den Himmel gehoben, die das wunderbare Repertoire des „Küü” geschaffen haben – kasachische Instrumentalstücke für Sololaute, -geige und -flöte. Auch bei den Turkmenen hat die Sowjetära kaum Auswirkungen auf die Tradition der Barden gehabt, die im Duo fortbesteht: ein Sänger mit Laute und ein Geiger. Jedoch geht die Machtergreifung durch einen Autokraten neuen Typs mit dem allmählichen Untergang des individuellen Ausdrucks einher. Die neuen Direktiven erfordern fortan, einen Sänger einstimmig singen zu lassen, und zwar Texte, die die Nation und ihren Führer preisen.
Das Phänomen geht also über die Grenzen der Ideologie hinaus, es ist einfach eine Angelegenheit der Macht, vielleicht sogar eine Tradition der Macht. Dies rechtfertigt nicht, dass man sich damit abfindet. Denn die Wirkungen können schädlich sein, selbst wenn die meisten Musiker fähig sind, sich zu teilen und von einem Genre zum anderen zu wechseln. Gemeinsam im künstlichen Umfeld eines Konzertes etwas zu spielen führt nicht nur dazu, dass Stücke, die in ihrem Wesen flexibel und formbar sind, eingefroren werden, sondern steht dem Geist und den ästhetischen Prinzipien der traditionellen Musik grundsätzlich entgegen. Zunehmend sind sich die Künstler – und selbst die Musikwissenschaftler – der Qualität traditioneller Aufführungsformen bewusst. Seit der Unabhängigkeit und der Rehabilitierung der Nomadenkultur in Kasachstan werden daher die Meister, die aus der rein mündlichen Tradition hervorgegangen sind und niemals Noten benutzt haben (selbst wenn sie sie kannten), in hohen Ehren gehalten. Sie gelten als die Bewahrer der Geheimnisse oder des Geistes der Tradition selbst, während man diejenigen Musiker, die in den Musikschulen und Konservatorien ausgebildet wurden, einfach als Virtuosen oder als Imitatoren betrachtet. Die Experten haben Recht. Wie sollte man sich auch nicht wundern, wenn sogar eine wunderbare Spielerin der kasachischen Viola im Laufe eines Konzertes an eine Melodie der reinsten schamanischen Inspiration einen Auszug eines Konzerts von Khatchaturian hängt, bei dem das Orchester durch eine CD ersetzt wird wie in einer billigen Karaoke-Kneipe?


Die Intervalle

Wenn man eine große Zahl an Musikern zusammenbringt, hat das auch Einfluss auf das Rhythmusgefühl und die Intonationen. Um neue Instrumente wie Klavier, Akkordeon oder Gitarre in das Orchester einzuführen, müssen sich die traditionellen Instrumente an deren Intervalle anpassen. In Aserbaidschan beispielsweise hat man die Intervalle der Laute modifiziert, um sie an die temperierte Tonleiter anzupassen, was das Spiel in zusammengesetzten Orchestern ermöglicht. Die offiziellen Intervalle sind nach und nach in das Ohr der Musiker eingedrungen und haben die alten Intonationen, die denen des Mittleren Ostens und des Irans nahe waren, verdrängt.
Es ist bemerkenswert, dass der Bereich der Intervalle zu einem Lieblingsort der Machtausübung geworden ist. Die Kaiser in China haben bei ihrer Thronbesteigung die Stimmgabel für das gesamte Land gestimmt. Platon hat dieses Verhältnis deutlich vorhergeahnt, als er sagte, man könne die Tonarten nicht anrühren, ohne die Stabilität des Staates zu gefährden. Dieser Logik gemäß bringt ein politischer Umsturz eine Veränderung der musikalischen Intervalle mit sich. Das ist zumindest das, was in Aserbaidschan passiert ist: Mit der Unabhängigkeit sind die alten Intervalle wieder aufgetaucht. Die Musiker sind jedoch nicht die Verlierer in diesem Prozess der Redefinierung der Intervalle. Sie haben sehr originelle Genres geschaffen, wie den Muqam-Jazz, und verwenden Instrumente wie das Akkordeon (Harmonium), die Oboe oder die Klarinette in der gleichen Originalität und Qualität wie ihre große traditionelle Musik. Was sie bei den Intonationsnuancen verloren haben, gewannen sie auf anderem Gebiet wieder; heute existieren alle Genres nebeneinander, ohne sich zu stören.
In grundsätzlich sesshaften Gebieten wie der Türkei oder dem Iran wurden die traditionellen Intervalle ohnehin nie in Frage gestellt. In Zentralasien, wo die Bevölkerung vorwiegend nomadisch und folglich beweglich ist, ist dieses Gefühl weit weniger stark: Man passt sich an, macht mit, leiht von anderen. Was es zu bewahren gilt, ist etwas anderes als ein Inhalt, eine Form oder ein Kanon, es ist das Rhythmusgefühl, der Musikraum, die Organisation der Vorführung, der Kontext, das Verhältnis zum Publikum. Über den Umweg von Konzerten und Aufnahmen kann der Westen auf diesem Gebiet eine Rolle übernehmen: indem er zu traditionellen, lebendigen und kreativen Aufführungen ermutigt, die entwerteten Instrumente und Genres wieder rehabilitiert, den Solisten das Wort gibt, die bombastischen Inszenierungen, die rhapsodischen Arrangements und die Demonstration billigen Virtuosentums ablehnt und schließlich ein kluges Publikum versammelt, das den Musikern ein aufmerksames Ohr leiht und ihnen ihre Wertschätzung und guten Gefühle entgegenbringt. Man kann sich kaum vorstellen, wie stark eine gute Konzerttournee den Blickwinkel verändern kann, der seit Jahrzehnten durch die Direktiven der Kulturverantwortlichen eingeschränkt wurde. Man kann sogar hoffen, dass auch letztere mit der Zeit verstehen werden.

Aus dem Französischen von Carola Dürr

Jean During, geboren 1947, ist leitender Forscher des Centre National de la Recherche Scientifique in Straßburg und koordiniert musikalische Projekte für die Aga Khan Music Initiative in Central Asia in Taschkent. Nach einem Studium der Philosophie begann er sich für Denken, Kultur und Musik des Orients zu interessieren und lebte neun Jahre im Iran. Nach der Rückkehr nach Frankreich erweiterte er sein Forschungsgebiet auf Aserbaidschan, das chinesische Turkestan und schließlich Zentralasien. Heute lebt er in Taschkent. Mit Publikationen wie „Musique et Mystique” und „Musique et Extase” und der Herausgabe einer Reihe von CDs mit zentralasiatischer Musik zählt er zu den herausragenden Musikwissenschaftlern der Gegenwart – gerade weil er sich in „unakademischer” Art auf den Gegenstand seiner Forschung wirklich einlässt.


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Kunst im Gulag
Stalins Verbannte und ihr Einfluss auf die Kunst in Kasachstan
Alltag, Außenseiter, Exil, Geschichte, Gewalt, Macht, Moderne, Wüste
Kasachstan spielte bei den Stalinistischen Säuberungen eine zentrale Rolle. Viele sowjetische Künstler wurden dorthin in Verbannung geschickt. In den 30er Jahren entstand so ein kulturelles Leben, das sich auf alle Ebenen der Gesellschaft auswirkte. Hier liegt auch der Ursprung einer neuen Ära kasachischer Kunst.

Von Larissa Pletnikova und Dana Safarova

„1935. Mai. Frühling in der Halbwüste. Ungeheure Weiten … Endlose Hügel – wie dicke Bäuche von Riesen. Über sie streicht ein feuchter Frühjahrswind, bläst die letzten Schneeflecken fort. So war es gewiss vom Anbeginn der Welt an. Aber was hat das gebildete Petersburg hierher geführt? (...) Auf einem der Riesenbäuche erstrecken sich lange Baracken, in denen keine Hoffnung herrscht. Sie sind umzäunt von einem doppelten Stacheldrahtverhau, der überragt wird von Türmen. Darin die Pelzmäntel der Bewacher, Gewehre. Und in einem extra Verschlag noch die Hunde, Deutsche Schäferhunde. Zum Aufspüren der Entflohenen ...” So beschreibt Vladimir Sterligov (gest. 1973), der letzte Vertreter der ersten russischen Avantgarde, seine Zeit in Kasachstan. Viele Jahre wurde diese Wirklichkeit verschwiegen. Erst in den Neunzigerjahren wurde es möglich, über bislang geheim gehaltene Aspekte der Sowjetzeit zu sprechen. Und so wurde auch diese Seite der kasachischen Geschichte – die Zeit der stalinistischen Säuberungen – offiziell. Dass Kasachstan zum Verbannungsort gewählt wurde, hatte vor allem geopolitische Gründe: Es lag weit genug entfernt von den Machtzentren der UdSSR, besaß umfangreiche Ressourcen und lag in den endlosen Weiten der Steppe.
So paradox es klingen mag, die stalinistischen Säuberungen spielten bei der Herausbildung der kasachischen Kultur und der Entstehung einer eigenen Kunst eine maßgebliche Rolle. Denn neben Vertretern der ehemaligen Oppositionsparteien, Repräsentanten der Kirche und den in Ungnade gefallenen Armeemitgliedern wurde die intellektuelle Elite aus allen Teilen der UdSSR hierher verbannt. Darüber hinaus wurden vor dem Krieg und noch einmal 1941 die „unzuverlässigen” Völker deportiert, das heißt Deutsche, Koreaner, Tschetschenen und andere mehr.
Es ist diesen Verfolgungen zu danken, dass erfahrene und oftmals weithin bekannte Künstler nach Kasachstan kamen. Künstlerische Experimente waren seit den Dreißigerjahren verboten. Das große utopische Projekt der russischen Avantgarde hatte ein jähes Ende genommen. 1937 wurde im Karlag die berühmte russische Malerin und Weggefährtin Malevichs Vera Jermolayeva erschossen. Auch der Malevich-Schüler Vladimir Sterligov verbüßte hier seine Haft; er hatte mit Vera Jermolayeva und Lev Yudin die Prinzipien des „malerisch-plastischen Realismus” entwickelt, ein Schritt, mit dem sie vom Suprematismus zu einer neuen Figürlichkeit fanden. Zu den Verfolgten gehörten weiterhin der Worpsweder Jugendstilkünstler Heinrich Vogeler, der Japaner Yokojamo Misao, der Aquarellist Artur Fonwisin, sowie der Direktor des Moskauer Puschkin-Museums, Vladimir Ejfert. Auch Antoschtschenko-Olenjew, Itkind, Teljakowski, Rittich und Urmantsche, die später berühmte Vertreter der kasachischen Kunst wurden und im offiziellen wie inoffiziellen Kunstleben von Alma-Ata – dem heutigen Almaty – eine bedeutende Rolle spielen sollten, durchlitten die Zeit der Verbannung.


Kultur in der Wüste

Der Einfluss der verfemten Künstler zeigte sich am deutlichsten in Zentralkasachstan. Dort entstand in den Dreißigerjahren, praktisch aus dem Nichts, ein lebendiges kulturelles Leben, von dem Impulse in alle gesellschaftlichen Bereiche ausgingen. Sie legten den Grundstein für eine neue Phase in der kasachischen Kunst. Die stalinistischen Säuberungen ließen die kleine Stadt Karaganda zur „Hauptstadt” und das Lager „Karlag” zum größten der Sowjetrepublik Kasachstan werden. In den Lagern existierten Clubs von zum Teil hohem Niveau, die der Agitation dienten. Die Gefangenen veranstalteten Konzerte und Schauspiele zu Ehren sowjetischer Helden. Künstler übernahmen die Ausgestaltung. Auch ein Ballett wurde gegründet. Bis heute ist die genaue Zahl der nach Kasachstan verbannten Künstler unbekannt. Forschungen hierzu setzten erst mit der Perestroika ein. Die erste Ausstellung verfemter Künstler fand 1990 in Karaganda statt und trug den Titel „Vergessene Namen“. Damals wurden 120 Arbeiten von elf Künstlern vorgestellt; heute sind über fünfzig Namen bekannt.
So unterschiedlich die künstlerische Qualität dieser äußerst heterogenen Gruppe ist, so verschieden stellt sich auch das Schicksal der einzelnen Künstler dar. Viele konnten sich auf die neuen Bedingungen nicht einstellen und waren dem Untergang geweiht – physisch oder künstlerisch. Als Verbannte fielen sie automatisch aus dem System der Staatsaufträge heraus, das in der UdSSR seit Ende der Zwanzigerjahre existierte. Damit waren sie zu Hunger und Elend verurteilt, denn ein freier Künstler war unter den gegebenen Umständen gleichbedeutend mit einem arbeitslosen Künstler. Der sozialistischen Auffassung zufolge bedeutete Freiheit nicht Unabhängigkeit, sondern Ausschluss von staatlichen Leistungen. Anders als im Westen mit seinem Kunstbetrieb gründete das sozialistische System auf der Utopie, nach der es keinen Markt gibt und in welcher der Künstler nicht im Widerspruch zur Gesellschaft steht, sondern deren integraler Bestandteil ist. Niemand benötigte Arbeiten von Künstlern, die in einschlägigen Listen „nicht geführt“ wurden; sie hörten gleichsam auf zu existieren. So erging es auch dem herausragenden Jugendstil-Vertreter Heinrich Vogeler, der, in das Dorf Kornejewa bei Karaganda verbannt, mit bewundernswerter Hartnäckigkeit seine antinazistischen Flugblätter und Plakate weiterhin nach Moskau schickte, freilich vergeblich.


Staatsaufträge für die Parias

Wenngleich das Betätigungsfeld dieser „Parias” unter den Künstlern auch deutlich eingeschränkt war, so waren sie dennoch nicht gänzlich freigestellt von Staatsaufträgen. Insbesondere Führerporträts für den „Roten Winkel“, die Ecke in russischen Bauernstuben, wo zu Stalins Zeiten stets sein Porträt hing, und für die Büros der NKWD-Chefs (Volkskommittee für Innere Angelegenheiten) wurden angefordert. Künstlerisch griff man dabei auf das 19. Jahrhundert zurück, schuf ein Gemisch aus Stilelementen der Peredwischniki (Wanderaussteller) und der klassisch-akademischen Schule. Allerdings höhlte die endlose Reproduktion festgelegter Motive einer sozialistischen Welt die Malerei immer mehr aus und ließ die Kunst zunehmend banaler werden. So kann das meiste nicht Kunst im eigentlichen Sinne genannt werden. Im Kampf ums Überleben passten sich zahlreiche Künstler den Forderungen ihrer Zeit an.
Nach ihrer Entlassung mussten die ehemaligen Häftlinge noch eine Zeit lang in Karaganda leben: als Zivilisten zur besonderen Verfügung. Erst später durften sie sich ihren Wohnort frei wählen, allerdings nur in einer kleineren Stadt, denn als ehemaligen Lagerinsassen war ihnen der Aufenthalt in Großstädten offiziell verboten. Viele entschieden sich dabei für Karaganda. Offiziellen Angaben zufolge zählte der Künstlerverband von Kasachstan mit Sitz in Alma-Ata Ende der Dreißigerjahre siebzehn Mitglieder. In den vierziger und fünfziger Jahren änderte sich die Situation in vielerlei Hinsicht. So bemühten sich die verbannten Künstler, über der Ausführung alltäglicher Auftragsarbeiten ihr künstlerisches Talent nicht verkümmern zu lassen. Sie richteten städtische Feiern aus, entwickelten Bühnenbilder für die ersten Stücke der Operettenbühne und des in den Dreißigerjahren gegründeten Dramatischen Theaters, befassten sich mit Innen- und Außenarchitektur und übernahmen Lehraufgaben. Vladimir Ejfert und Pavel Frisen bildeten in Malerateliers eine ganze Generation lokaler Künstler aus Karaganda aus. Einer der heute namhaftesten kasachischen Künstler, Abram Tsherkasski, unterrichtete nach seiner Entlassung aus dem Karlag von 1941 bis 1958 an der Kunstschule von Alma-Ata. Auch Vladimir Sterligov widmete sich der Lehrtätigkeit, nachdem er 1942 an der Front verwundet und nach Alma-Ata evakuiert worden war. Sein Nachfolger ist heute der bekannte Künstler Rustam Khalfin.
Unter den Verbannten gab es auch eine Vielzahl weniger bekannter Künstler, die sich in die innere Emigration begaben. Durch Lagermauern vom gewöhnlichen Alltag abgeschnitten, führten sie zwar offizielle Aufträge aus, zogen es in ihrer eigenen künstlerischen Arbeit jedoch vor, „in die Natur zu gehen“. Hier war der Künstler frei, hier galt die Übermacht des Staates nicht mehr. Nicht alle jedoch vermochten es, den Belastungen standzuhalten und den Künstler in sich zu bewahren. Viele verbrachten den Rest ihres Lebens damit, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Stellvertretend sei hier Lev Premirov genannt, dessen Zeichnungen und Erinnerungen die dramatischen Ereignisse der Lagerhaft wieder aufleben lassen und in vielen Punkten an Solshenizyns Schilderungen des Lagerlebens erinnern.


Die Nonkonformisten

Ein anderes Phänomen, das eng mit der Lagererfahrung zusammenhängt, wird in den Fünfziger- und Sechzigerjahren deutlich. Es ist der Beginn der nonkonformistischen Kunst in der UdSSR, die den Faden der russischen Avantgarde wieder aufnimmt. Von denen, die im Karlag saßen, sind heute Ülo Sooster, Lew Kropiwnizki und Vladimir Sterligov als Nonkonformisten weithin anerkannt. Lew Kropiwnizki erklärt dazu: „Die Zeit psychischer Drangsal hat viele von uns wachgerüttelt. Für mich war es die Rückkehr zur Kunst (…). Die durchlebte finstere und deprimierende Welt verlangte danach, auf die Leinwand gebracht zu werden. Mein früherer naturalistischer Stil war jedoch nicht geeignet, diese Welt abzubilden. Ich begriff schlagartig, dass nur die abstrakte Kunst, eine emotionalere, ausgreifendere, persönlichere, im Grunde realistische Kunst dazu imstande ist.“ In Kasachstan, wo er nach seiner zehnjährigen Lagerhaft in der Verbannung lebte, entwickelte Lew Kropiwnizki die Idee eines abstrakten Expressionismus und schuf seine ersten Werke in diesem Stil.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die verbannten Künstler eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung einer professionellen, modernen Kunstszene in Kasachstan spielten und die Entwicklung einheimischer Künstler stark beeinflusste. Weitere Forschungen sind nötig, um die besonderen Entstehungsbedingungen der bildenden Kunst in Kasachstan nachzuzeichnen. Trotz Öffnung der Archive ergibt sich bislang nur ein unzulängliches Bild. Von den Arbeiten, die in den Lagern oder ihrem unmittelbaren Umfeld entstanden, sind nur wenige Einzelwerke erhalten geblieben, da sie systematisch aufgespürt und vernichtet wurden. Was bisher bekannt wurde, ist nicht mehr als die Spitze des Eisbergs

Deutsch von Eveline Passet


Larissa Pletnikova, geboren 1966 in Karaganda, Kasachstan, studierte am Vasnetsov Art College, Moskau, und der Staatlichen Universität Ekaterinburg, bevor sie für die JoiM Gallery tätig wurde. Seit 1999 leitet sie die NGO „Laboratory of Society’s Social Development” und das Kunstzentrum „Desht-i Art”. Zu ihren Ausstellungsprojekten zählen ”Soviet Artists in Karaganda 1930 – 1960” (1992) und ”New Reality: Contemporary Art in Kazakhstan” (1999).

Dana Safarova, geboren 1965 in Almaty, Kasachstan, arbeitete nach ihrem Abschluss an der Hochschule für Kunstgeschichte in Moskau 1999 ein Jahr lang in der Forschung als Kunsthistorikerin. Anschließend wurde sie stellvertretende Direktorin am staatlichen Museum für Kunst in Karaganda. Seit 2001 ist sie stellvertretende Direktorin am Kunstzentrum „Desht-i Art”. Sie kuratierte u.a. die Ausstellungen „The Colour of Time” (1997), „Bridge Almaty-Akmola” (1998-99) sowie die Gesamtschau „New Reality: Contemporary Art in Kazakhstan” (1999) zusammen mit Larissa Pletnikova.


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Vom orientalischen Plattenbau zur symbiotischen Stadt
Die architektonische Erneuerung der Hauptstädte Astana, Bischkek und Taschkent
Erinnerung, Geschichte, Globalisierung, Identität, Metropole, Moderne, Mythos, Postmoderne, Schönheit, Umbruch, Urbanität
Ein Blick auf die Architektur der drei mittelasiatischen Hauptstädte Astana, Bischkek und Taschkent verrät viel über das jeweilige Verhältnis der Regierungen zu ihrer jüngeren Nationalgeschichte. Während sich Kirgisistan klar zu seiner sowjetischen Vergangenheit bekennt und selbst eine dominante Lenin-Statue auf dem Hauptplatz von Bischkek bislang nicht beseitigte, versuchen Kasachstan und Usbekistan einen neuen politischen und architektonischen Weg zu gehen. Während im usbekischen Taschkent repräsentative Neubauten eine islamische Formensprache neu zu formulieren versuchen, lässt sich Kasachstan von einem japanischen Architekten gleich eine neue Regierungsstadt bauen.

Von Philipp Meuser



Astana: zwischen Steppe und Sumpf

Die Leere der kasachischen Landschaft gilt auch für die wenigen Städte des Landes, die alle noch von der sowjetischen Zeit geprägt sind: fließende Räume, in denen die Trennung von öffentlichen und privaten Zonen aufgelöst scheint, und weite Plätze, die mehr der politischen Inszenierung denn einer Urbanität im traditionellen Sinne dienen. Zudem gehen die meisten Städte auf russische Siedlungen zurück, die ab dem 19. Jahrhundert als Außenposten Moskaus errichtet wurden. Typische kasachische Städte haben sich deshalb im Laufe der Zeit nicht herausbilden können, so dass der Masterplan für die nach Astana verlegte Hauptstadt – eine Idee des Staatspräsidenten Nursultan Nazarbaev – besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der Entwurf stammt von dem Japaner Kisho Kurokawa, der sich 1998 in einem internationalen Wettbewerb durchsetzte. Sein Werk, eine über 1000 Seiten umfassende Strategie zur Transformation und Erweiterung Astanas, versucht, der Regierung ein Werkzeug an die Hand zu geben, aus dem von Umweltverschmutzung und Verschleiß geprägten Ort eine zukunftsweisende Hauptstadt zu machen.
In der gestalterischen Umsetzung liest sich der Masterplan wie ein traubenartiges Gebilde, das die bestehende Stadt nach Süden erweitern und bis zum Jahre 2030 knapp
800000 Einwohnern eine Heimat geben soll. Damit verdreifacht sich die Stadt innerhalb einer Generation. Während noch Brasilia und Chandigarh – die Hauptstadtplanungen des 20.Jahrhunderts schlechthin – vom „großen Wurf“ ihrer Architekten geprägt wurden, die den Orten stets auch etwas Künstliches verliehen, verzichtet Kurokawa bis auf ein im Stadtgrundriss verankertes Band der Regierungsbauten ganz auf starre Gestaltungselemente. Und er liefert zugleich ein ideologisches Konzept, das der bloßen Hauptstadt-Idee Nazarbaevs substanziellen Inhalt verleiht: Anders als viele seiner Wettbewerbskollegen stülpte Kurokawa der Stadt keine künstliche Form auf. Stattdessen entwickelte er eine Strategie, wie man der Stadt unter anderem ein neues Wasser- und Abfallmanagement verpassen könne – mit dem Ergebnis, dass im kommenden Frühjahr mit japanischer Finanzhilfe zunächst die Kanalisierung Astanas modernisiert wird. Darüber hinaus soll durch ein großflächiges Aufforstungsprojekt das Mikroklima der Stadt modifiziert werden. Bis zu 80 Grad Temperaturunterschiede werden im Jahresverlauf gemessen.
Auf dem Baufeld der neuen Regierungsstadt ist bereits eine rege Bautätigkeit zu beobachten. Inmitten der Leere erhebt sich inzwischen eine 200 Meter hohe Konstruktion, die mit Stahlseilen im Boden verankert wird. Die schlanke Vertikale wirkt in der flachen Landschaft, als habe man auf einer Karte mit der Nadel die neue Hauptstadt markieren wollen. Dieser Aussichts- und Kommunikationsturm wird das Zentrum des neuen Regierungsviertels überragen und das gestalterische Gleichgewicht zwischen den beiden Endpunkten der neuen Achse bilden. Auf der westlichen Seite wächst gerade ein Zwillingsturm in die Höhe. Der staatliche Ölkonzern setzt sich hier ein 25-geschossiges Denkmal. Auf der östlichen Seite bereiten Bagger und Planierwalzen gerade den Bau des Präsidentenpalastes vor, der hier in zwei Jahren stehen wird.
Astana, bis vor wenigen Jahren ein eher unbedeutender Ort an der Strecke zwischen Moskau und Almaty, ist eine Stadt der zwei Geschwindigkeiten. Während die ansässige Bevölkerung in ihren ruralen Datschen dem jahreszeitlichen Alltag der Selbstversorgung nachgeht, zeugen die Bagger der Regierung von nicht mehr aufzuhaltender Urbanisierung und dem politischen Wunsch einer schnellen Erneuerung. Wahrscheinlich ging es hier vor 80 Jahren das letzte Mal so zu, als das Land zwischen sibirischen Sümpfen und kasachischer Steppe mit der Eisenbahn erschlossen wurde. Welchen Bedeutungswandel die Kapitale in den kommenden Jahren erleben dürfte, haben die Bewohner bereits erfahren dürfen. Seit der künstlichen Verbreiterung des Ishim liegt Astana an einem Fluss, dessen Breite von bis zu 200 Metern den hauptstädtischen Strömen Seine, Themse oder Donau gleichkommt. Doch bei genauerem Blick entpuppt er sich als stehendes Gewässer. Denn der schmale Fluss, der sich vom Gebirge hunderte Kilometer bis in die sumpfige Region um Astana schlängelt, ist im Stadtgebiet lediglich aufgestaut. Immerhin hat Astana seitdem eine Uferpromende, wie sie für die russischen Städte an Ob, Wolga und Ural so typisch ist.
Die neuen Wohnbauten für die Regierungsbeamten entlang dieser Promenade wirken wie aus der Lego-Kiste: bunte Farben, einfache Gebäudeformen, voluminöse Dächer. Die alten Bewohner haben zwei von ihnen Spitznamen verliehen: „Titanik“ und „Kursk“ – eine Anspielung darauf, dass das Flussufer nie bebaut wurde, weil der Ishim in den Jahren vor dem Bau der befestigten und erhöhten Promenade nach der Schneeschmelze regelmäßig über die Ufer trat und die Häuser untergingen ließ. Freilich spielt bei diesen Wortspielen auch ein wenig Neid mit. Denn nach wie vor lebt das Gros der Astaner in einfachsten Wohnblocks, die in der Nach-Stalin-Ära errichtet wurden. Damals war die kleine Siedlung Akomolinsk gerade in Tselinograd umbenannt worden – in Anlehnung an die landwirtschaftliche Erschließung der Region im Rahmen des so genannten „Neuland-Programms“ (Tselina, russisch: Neuland), in dessen Folge sich Kasachstan zu einem Getreidelieferanten der UdSSR entwickelte. Als ab 1991 in der gesamten GUS viele Städte ihre alten Namen zurückeroberten, blieb auch Tselinograd nicht verschont. Kurze Zeit hieß es wieder Akmola, bevor Staatspräsident Nazarbaev seiner Hauptstadt auch diesen Namen nahm. Kritiker hatten gespottet, dass Akmola aufgrund der schneereichen Winter in einer freien Übersetzung auch „weißes Grab“ bedeuten könne. Seitdem heißt die Hauptstadt nach dem Wunsch des Präsidenten „Hauptstadt“ (Astana, kasachisch: Hauptstadt).
Ginge es nach dem Architekten Kisho Kurokawa, dürfte Astana in 30 Jahren zu den modernsten Städten der Welt gehören. Seine Grundidee basiert auf der Erweiterung der Stadt nach Süden. Kurokawa überzeugte die Jury vor allem mit seiner Theorie der so genannten metabolischen Stadt, mit der er bereits 1960 international auf sich aufmerksam gemacht hatte. Darin formulierte er seinerzeit den Gedanken, dass Städte wie Organismen wachsen und sterben, und lieferte damit quasi nebenbei so etwas wie ein Logbuch für ganz Kasachstan: Planung als ein dynamischer Prozess, in dem ganze Städte und Regionen von der Landkarte verschwinden und wieder auferstehen. Darüber hinaus malte der Japaner den Kasachen das Bild einer symbiotischen Stadt, in der sich sowjetische Altstadt und kasachische Neustadt zu einem neuen Ganzen vereinigten. Vor dem Hintergrund, dass sich andere zentralasiatische Staaten ganz von ihrem sowjetischen Erbe lossagen, nimmt Kasachstan deshalb eine Sonderrolle ein.


Bischkek: Wo Lenin nach Westen blickt

In der östlichsten GUS-Hauptstadt scheinen die Uhren zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer etwas langsamer zu gehen. Bischkek, seit 1991 Kapitale der Kirgisischen Republik, wirkt auf seine Besucher fast noch wie zu Sowjetzeiten. Erst im vergangenen Sommer wurde auf dem Leninplatz, der wie in vielen anderen Städten Zentralasiens heute Unabhängigkeitsplatz heißt, eine amüsante bis irritierende Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben: Autofahrer, die den Platz queren, müssen ihre Tacho-Nadel nun nicht mehr auf 20 Stundenkilometer drosseln. Auch dürfen sie seitdem nachts die Hauptverkehrsachse nutzen, die ihnen zuvor zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang verwehrt geblieben war. Der Grund dafür war nichts geringeres als die knapp 15 Meter hohe Lenin-Statue, die sich allen politischen Umwälzungen zum Trotz bis heute erhalten hat. Jeden Tag huldigten Hunderte von Fahrzeugen dem ehemaligen Volkshelden, indem sie auf die Bremse traten und ehrfurchtsvoll an der Steinskulptur vorbeischlichen. Fast eine Dekade lang hatte die Absurdität niemanden so richtig gestört; quasi über Nacht wurde sie aufgehoben, als habe sie nie bestanden. Diese Anekdote mag stellvertretend für die Situation der zentralasiatischen GUS-Republik stehen.
Beim Anblick des Stadtplans wird man den Eindruck einer Spielzeug-Stadt nicht los: eine Straße, eine grüne Fläche, darauf mittig ein Haus. Stadt, das ist in Bischkek vor allem eine Sammlung architektonischer Objekte, streng auf die einzelnen Felder verteilt. Von einem städtebaulichen Kontext, gar einem Bezug zwischen Haus und Straße wird man hier kaum sprechen wollen. Bischkek könnte eine sozialistische Idealstadt sein: Im Zentrum liegen gleich mehrere Parks, in die locker Kulturpaläste, Museen, Ministerien, Universitäten und sonstige öffentliche Institutionen eingestreut sind. Was wie ein großes Open-Air-Museum der sowjetischen Architektur wirkt, ist jedoch lediglich das Ergebnis einer russischen Stadtgründung im 19. Jahrhundert. Das für diese Zeit typische Schachbrettmuster, das sich in dieser Strenge in vielen altrussischen und sibirischen Städten wiederfindet, bot in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ideale Baugrundstücke für die an Narzissmus kaum zu übertreffenden Sowjetbauten. Der Zirkus von Bischkek sieht wie ein soeben gelandetes Ufo aus, das unweit gelegene Hochschulgebäude mit seinem brutalen Fassadenschmuck wie ein Bollwerk des kommunistischen Bildungssystems. Lenin hat sich im Tanz der miteinander kokettierenden Baukörper auf seinem fünf Meter hohen Sockel behauptet. Er weist noch immer hinüber zu den schneebedeckten Gipfeln der Berge, als läge gleich dahinter das Arbeiter- und Bauernparadies.
Früher, als Bischkek noch Frunze hieß, war die Stadt ein wichtiger Vorposten der Sowjets vor dem Tienschan-Gebirge, dessen östliche Ausläufer bis ins chinesische Nachbarland reichten. Heute präsentiert sich die kirgisische Hauptstadt als ein Ort, der sein architektonisches Erscheinungsbild zehn Jahre lang kaum verändert zu haben scheint. Die Hyatt-Gruppe hat auf einem der noch freien Plots einen alten Hotel-Kasten mit einer neuen Fassade überzogen, dessen Bezug zum Straßenraum lediglich aus einem geschmiedeten Zaun besteht. Gleich davor hat ein ebenfalls privater Investor eine pyramidenförmige Bowling-Anlage errichtet – die neue Marktwirtschaft lässt grüßen.
Tatsächlich sind seit dem Zerfall der Supermacht auch im Bau- und Planungswesen einige Änderungen durchgesetzt worden. Zu den wichtigsten gehört zweifelsohne die Möglichkeit, Land zu besitzen. Wenn auch die vom Staatspräsidenten unterstützte Forderung, Grundstücke als wirtschaftliches Gut zu betrachten, noch nicht vom Parlament ratifiziert wurde, so haben Hauseigentümer immerhin schon die Möglichkeit, ihr Grundstück für 99 Jahre vom Staat zu pachten. Wie viel genau, hängt freilich von der sozialen Stellung und der Familiengröße ab. Vor dem Hintergrund der geringen Löhne und Gehälter wird die kirgisische Bauwirtschaft wohl noch etliche Jahre auf einen Boom der Einfamilienhäuser und Vorortvillen warten müssen.


Taschkent: Erfindung von Geschichte

Taschkent muss für mittelalterliche Reisende ein faszinierender Rastplatz zwischen Europa und China gewesen sein. Inmitten der Hungersteppe und wie Bischkek an der legendären Seidenstraße gelegen, präsentierte sich eine orientalische Oasenstadt, in der quirlige Bazare, verzierte Moscheen und pompöse Paläste von Reichtum zeugten. Neben Buchara und Samarkand zählte Taschkent zu den schönsten Städten in den Ausläufern des Tienschan-Gebirges. Auch ein heutiger Spaziergang durch die usbekische Hauptstadt Taschkent gleicht dem Besuch eines Architekturmuseums. Allerdings wird man dort weniger die Ikonen der orientalischen Baukunst finden als vielmehr die unzähligen Dekor-Varianten an den Fassaden der so genannten Plattenbauten bestaunen. Es scheint, als habe sich die Profession der Architekten in der mittelasiatischen Metropole mit der Formenvielfalt selber etwas beweisen wollen. Und man möchte fast meinen, jeder Wohnriegel in der Stadt warte wie in einer Musterschau darauf, von einem potenziellen Auftraggeber in hoher Auflage bestellt zu werden. Tatsächlich galt Taschkent zu Sowjetzeiten als Versuchslabor des industriellen Bauens. Und ohne Zweifel lässt sich behaupten, dass die zahlreichen Wohngebäude, die ab Ende der Sechzigerjahre errichtet wurden, mit zu den architektonischen Highlights in der mittelasiatischen Steppe gehören – zumindest was ihren Anspruch an die Detaillierung der Fassaden angeht. Gegen die Jahrhunderte alte Baukunst des Islams konnten die industriell vorgefertigten Profanbauten freilich nie antreten. Trotzdem ist die sowjetische Architektur von einem Geist beseelt, der jenseits von monotonen Lochfassaden und unwirtlichen Schlafstädten das Thema Massenwohnungsbau auf ästhetisch hoch anspruchsvolle Weise beantwortet hat.
Dass die viertgrößte Stadt der ehemaligen Sowjetunion zu diesen architektonischen Würden kommen konnte, hat einen trivialen, wenn auch tragischen Hintergrund. 1966 wurde nahezu die gesamte Stadt durch ein Erdbeben zerstört. Was nicht nur für Kunsthistoriker eine Katastrophe schlimmsten Ausmaßes darstellte, war für die von Utopien und Ideologien geprägten Planer der Sowjetunion eine Herausforderung schlechthin. Bereits ein Jahr nach der Zerstörung konnten die ersten Bewohner in neue Wohnungen ziehen. Möglich gemacht hatte dies ein Arbeitsstab aller Sowjetrepubliken, die ihre besten Planer – so sagt es zumindest die Legende – in die südliche Teilrepublik entsandt hatten. Wie auf der grünen Wiese konnten die Architekten in unmittelbarer Innenstadtlage ihre Wohnmaschinen abstellen.
Neben verschiedenen Plattentypen entwickelten die Baukünstler unterschiedliche Dekor-Elemente für die Giebelwände oder Fensterformen, die alles andere als bloße Löcher in der Wand waren. Aufgrund der Plattenbautechnik, bei der die Wandelemente in Fabriken komplett mit Fenstern industriell vorgefertigt und auf der Baustelle nur noch zusammengesetzt wurden, wurde die Fuge zwischen den Platten zu einem gestalterischen Thema. Wie feine Adern überziehen sie die zumeist banalen Gebäudekörper, deren Dimension schließlich von den Aktionsradien der Baukräne vorgegeben wurde. Der politische und wirtschaftliche Druck, binnen weniger Jahre eine Stadt für mehr als eine Million Menschen wieder aufzubauen, beflügelte die Architekten und Planer zu wahren ästhetischen Höchstleistungen. Trotz kurzer Planungszeit entstanden in Taschkent Plattenbausiedlungen, die es verstanden, bautechnische Anforderungen mit lokalen Traditionen zu verbinden. So finden sich auf den Fassaden vieler Wohnbauten geometrische Formenmuster, deren Analogien in der islamischen Baugeschichte zu finden sind. Dazu zählen vor allem der Halbmond oder auch florale Elemente. Dass auf diese Weise in Zentralasien wohl die phantasievollsten Beispiele des modernen Plattenbaus entstanden, erscheint der heutigen Stadtpolitik kaum interessant. Überhaupt scheinen die Jahrzehnte vor 1991 für offizielle Vortrags- und Lehrveranstaltungen tabu zu sein. Aussagen von Studenten zufolge werden zurzeit sogar die Bände der sowjetischen Architektur aus den Bibliotheken geräumt. Von einer Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte kann daher keine Rede sein.
Die neue Architektur in Taschkent ist derweil von einer retrospektiven Haltung gekennzeichnet, gegenüber der ein Wiederaufbau der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale wie ein zukunftsweisendes Projekt erscheinen muss. Im Drang, eine nationale usbekische Identität als Kontrapunkt zum sowjetischen Funktionalismus zu formulieren, greifen die Entwürfe auf stilgeschichtliche Elemente aus dem Mittelalter zurück. So etwa könnten das Timuriden-Museum, das Rathaus oder auch die Börse (zwischen 1997 und 1999 fertiggestellt) aufgrund ihrer filigranen Mosaikmuster und Holzarbeiten auch aus einer Zeit stammen, in der die Seidenstraße die einzige Verbindung zwischen Europa und China darstellte und Zentralasien den Gewinn bringenden Handel ermöglichte. Ganz offensichtlich dominiert in den Entwürfen der Repräsentationsbauten der Wunsch nach einer usbekischen Leitkultur innerhalb eines Vielvölkerstaates, in der jeder vierte Einwohner einer ethnischen Minderheit angehört. Von geschichtlichem Rückblick und architektonischer Ideologie ist auch der Neubau des usbekischen Parlaments geprägt. Bereits im Jahr der Unabhängigkeit 1991 hatte Präsident Islam Karimov den Wettbewerb für einen neuen Stadtpark ausgelobt. Der Sieger erhielt kurze Zeit später den Direktauftrag für den Parlamentsbau: eine Mixtur aus antikem Säulengang, orientalischer Kuppelarchitektur und modischer Spiegelglas-Fassade – in der Ideologie des postsowjetischen Usbekistans eine Verkörperung von Demokratie, Tradition und Weltoffenheit. Ganz so, wie es der Präsident bestellt hatte.
Wie auch in den Nachbarländern zählt der Kampf um Wasser inzwischen zu einem wesentlichen Ziel der Politik. In einigen Regionen ist Mineralwasser inzwischen genauso teuer wie Benzin. Wasser ist damit zu einem Synonym für Reichtum geworden: Taschkent, das von Steppen und Wüsten umgeben ist, zählt über tausend Brunnenanlagen im Stadtgebiet. Während jedoch die öffentlichen Grünanlagen von einem ausgeprägten Kanalsystem durchzogen werden, sind weite Teile der Altstadt bis heute nicht an die öffentliche Kanalisation angeschlossen. Der offiziellen Stadtpolitik gibt dieser Zustand Anlass, die intakten Quartiere abzureißen und durch anonyme Wohnblöcke zu ersetzen. Die Rechtfertigungen für die Eliminierung der Nachbarschaften, nach denen die schmalen Wege im Brandfall keine Durchfahrt für Feuerwehrfahrzeuge ließen, erinnern an Argumentationen aus den Anfängen der Flächensanierung in Deutschland in den späten Sechzigerjahren. Dass mit dem Abriss der letzten verbliebenen Altstadtreste auch ein Teil der islamischen Bautradition zerstört wird, kann nicht gegen die Vermutung ankommen, dass sich hinter der Abriss-Strategie eine politische Absicht verbirgt: Die schwer kontrollierbaren Quartiere werden immer wieder als Keimzellen des Terrorismus diffamiert – eine These, die bislang noch nicht widerlegt werden konnte.

Philipp Meuser, geboren 1969, ist diplomierter Architekt (BDA) und freier Journalist. Er studierte in Berlin und Zürich Architektur mit dem Schwerpunkt Geschichte und Theorie. Seit 1996 koordiniert er das Berliner Stadtforum und war bis 1999 verantwortlicher Redakteur der gleichnamigen Zeitschrift. Seit 2000 ist er Chefredakteur der Zeitschrift »Foyer«. Er unternimmt regelmäßig Studienreisen durch Zentralasien.


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Mythenbildung per Dekret
Neue nationale Identitäten und alte Helden
Erinnerung, Geschichte, Heimat, Identität, Islam, Macht, Mythos, Tradition, Vorfahren, Zeit
Die früher allgegenwärtigen Leninstauten verschwinden allmählich aus den Stadtbildern der zentralasiatischen Länder. Sie machen Denkmälern historischer Helden wie Tamerlan oder Shah Ismoil Platz, mit denen die neuen Herrscher an frühere Glanzzeiten anknüpfen und neue nationale Identitäten bilden wollen.

Von Marcus Bensmann

Usbekistan: Der Reiter im Park

In dem von Eichen bewaldeten Park im Zentrum Taschkents reitet Tamerlan (Timur Lenk) hoch zu Ross. Die in comichaftem Realismus gestaltete Skulptur des Mongolenherrschers hat kurz nach der Unabhängigkeit den in eine sozialistische Zukunft weisenden Lenin abgelöst. Tamerlan trägt zwar die ausladende Mütze und die spitzen Reiterstiefel der Mongolen, gleichwohl ist er die historische Identifikationsfigur des neuen Staates. Im 13. Jahrhundert hatte der Enkel Chingiz Khans von Samarkand aus mit harter Hand ein Weltreich regiert, das von den Rändern Osteuropas bis zum indischen Subkontinent reichte. Gesandte aus verschiedensten Ländern pilgerten zum Hof Tamerlans, und Samarkand war die geistige und kulturelle Metropole der damaligen Welt.
Die janusgesichtige Reputation des Mongolenkaisers schwankte zwischen einem grausamen Despoten und einem Förderer der Künste. Ganz Zentralasien ist überzogen mit den prächtigen, mit blauen Kacheln verkleideten Moscheen und Palästen der Timuridenzeit, nicht zuletzt weil die vorherige Architektur dem Zerstörungswerk des Mongolenheers zum Opfer gefallen war. Tamerlan hatte die Bevölkerung der Gegend, in der sich heute Usbekistan befindet, nicht geschont. Gleichwohl liebt es der jetzige Präsident Islam Karimov, eine direkte Kontinuität des damaligen Reiches zum heutigen Usbekistan herzustellen. Die Hauptmotive Karimovs, sich in dieser Tradition zu sehen, sind die Sehnsucht nach alter Größe und der Regierungsstil Tamerlans. Die Staatsideologie Usbekistans zielt ab auf Stabilität und Ordnung, die der Präsident mit harter Hand gewährt. Die anfänglichen demokratischen Ansätze der zentralasiatischen Nachbarn Kasachstan und Kirgisistan waren für Karimov ein Zeichen der Schwäche. Usbekistan buhlt als bevölkerungsdichtestes Land um die Hegemonialstellung in Zentralasien; die Erinnerung an Tamerlan soll diesen Anspruch historisch belegen. Es gibt kaum noch einen öffentlichen Platz in Usbekistan, auf dem die Statue des Mongolenherrschers nicht die von Lenin abgelöst hätte. Ein dem alten Baustil nachempfundenes Museum Tamerlans in Taschkent ist die prunkvoll-kitschige Weihestätte des berühmt-berüchtigten Mongolenherrschers. Karimov liebt es, ausländische Staatsgäste nach Samarkand zu begleiten und dort mit ihnen das Mausoleum Timur Lenks zu besuchen.
Die in Usbekistan erscheinende historische Literatur über die Timuridenepoche besteht ausschließlich aus Lobeshymnen auf die ‚usbekische’ Blütezeit. In den Vorworten wird immer ein Zitat des jetzigen Präsidenten erwähnt, das einen direkten Zusammenhang zur usbekischen Gegenwart herstellt. Auch die modernen Geschäftsgebäude Taschkents sind mit architektonischen Reminiszenzen an die Timuridenzeit geschmückt. So trägt das Staatsbankgebäude in Taschkent eine stilisierte Mongolenkappe wie der Reiter im Park. Der Geburtstag Tamerlans wird mit ausgiebigen Festen und Gedenkveranstaltungen begangen und verheiratete Eheleute legen an ihrem Hochzeitstag einem der zahlreichen Denkmäler Tamerlans Blumen zu Füßen. Wie alle anderen Staaten Zentralasiens ist Usbekistan jedoch an Moskauer Reißbrettern nach den Prinzipien der leninistischen Nationalitätenpolitik gestaltet worden, deren absurde Grenzverläufe noch heute ein Hauptproblem der zentralasiatischen Staaten sind. Insofern ist der wirkliche Staatsgründer Usbekistans eher Lenin als Tamerlan.


Tadschikistan: Persische Wurzeln

Hat sich Usbekistan schon direkt nach der Unabhängigkeit auf den historischen Helden bezogen, so ist die Verehrung Tadschikistans für einen anderen Herrscher Zentralasiens erst einige Jahre alt. Die südlichste zentralasiatische Sowjetrepublik war kurz nach der Unabhängigkeit in einen blutigen Bürgerkrieg geschlittert. Regionale Eliten im Süden Tadschikistans kämpften um die Macht in dem unabhängigen Staat an der afghanischen Grenze. Die postkommunistischen Eliten und Russland scharten sich um die Milizen aus der Provinz Kuljab und die Islamische Bewegung Tadschikistans wurde zum einenden Band der Kampfgruppen des tadschikischen Hochlandes aus dem Garmtal und Badschaschan, die vom Iran und von arabischen Staaten unterstützt wurden. Nach dem Friedensschluss in Moskau 1997, der aufgrund einer Annäherung zwischen Russland und dem Iran zustande kam, teilten sich die südlichen Regionaleliten die Macht in Tadschikistan und lösten damit endgültig die Dominanz der nördlichen Provinz Leninabad ab, die zur Sowjetzeit die tadschikische Sowjetrepublik regiert hatte.
Die Tadschiken sind im Gegensatz zu den turk- und mongolenstämmigen Ethnien in Zentralasien persischer Herkunft. Mit dem Friedensschluss sollte die Besinnung auf eine tadschikische Renaissance eingeleitet werden, dessen historischer Held der Gründer der Saminiden-Dynastie Shah Ismoil ist. Nach einem Bruderkrieg im 10. Jahrhundert konnte Ismoil sich von der arabischen Vorherrschaft in Zentralasien lösen und gründete ein Reich, das ebenfalls aus Samarkand und Buchara heraus regiert wurde. Dadurch wurde eine Blüte der persischen Kunst und Kultur eingeleitet, auf die man sich heute wieder besinnt: Anlässlich der 1000-Jahr-Feier der Saminiden-Dynastie auf dem zentralen Platz in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe wurde eine gewaltige Statue Shah Ismoils errichtet. Der Präsident ließ eine Oper mit dem Titel Shah Ismoil schreiben, und eine Geldreform löste den tadschikischen Rubel ab und brachte den tadschikischen Somoni heraus. Auf der Rückseite des Geldscheins prangt ein Porträt des Herrschers, dessen Augenbrauen genau so dicht sind, wie die des Präsidenten Emomali Rakhmonov. Neben dem Shah ist das Mausoleum der Saminiden im heute usbekischen Buchara abgebildet. Es hatte als eines der wenigen Bauwerke den Mongolensturm überlebt, weil Sandverwehungen es vor dem Zugriff der Reiterhorden schützten. Die auf usbekischem Staatsgebiet liegenden Städte Samarkand und Buchara sind im Bewusstsein des tadschikischen Staatskultus die Geburtsstätte einer nationalen Kultur, die nur durch die Willkür der leninistischen Nationalitätenpolitik Tadschikistan entrissen wurden. Bis heute ist die Umgangssprache in diesen Städten tadschikisch. Und auf beide erheben die Tadschiken wieder Anspruch: So sagte der Minister für Katastrophenschutz in Duschanbe und frühere Mudjahedin-General Mirso Siyoev in einem Interview für eine italienische Zeitung, Tadschikistan ohne Samarkand sei wie Italien ohne Rom.


Kirgisistan: Manas und Lenin

Neben den zwei widerstreitenden Herrscherfiguren in den Nachbarländern besinnt sich der kirgisische Staat auf das Manas-Epos. Das längste Epos der Welt besingt den Kampf des mythischen Helden Manas gegen die Chinesen. Kirgisistan liegt ohne Bodenschätze und geostrategische Bedeutung am östlichen Rand Zentralasiens und ist den mächtigen Nachbarn China, Usbekistan und Kasachstan ausgeliefert. Die Besinnung auf den mythischen Helden soll den Überlebenswillen der Kirgisen festigen.
Im Gegensatz zu den aufgesetzten historischen Herrscherkulten in Usbekistan und Tadschikistan ist Manas tief in der kirgisischen Kultur verwurzelt. Akyne – Epensänger – ziehen durchs Land und tragen bei Festen Ausschnitte aus dem Epos vor. Eine Legende besagt, dass die Akyne dazu geboren werden und man diesen Gesang nicht erlernen kann. Künstler und Filmemacher, aber auch der Präsident Aska Akaev greifen immer wieder auf Motive aus dem Manas-Zyklus zurück. Statuen des mythischen Helden schmücken die Plätze des Landes. Andererseits hat sich nur Kirgisistan von dem eigentlichen Staatsgründer nicht getrennt: Lenin darf immer noch auf dem Hauptplatz von Bischkek stehen.


Marcus Bensmann, geboren 1969, arbeitet seit acht Jahren als freier Journalist in Zentralasien und Afghanistan. Seine Berichte, Reportagen und Analysen werden in deutschen, schweizerischen und japanischen Medien veröffentlicht, zum Beispiel Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Stern, Deutsche Welle, Weltwoche und facts.