Kaum eine Region steht derzeit so im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit wie der Nahe Osten. In der allgemeinen Wahrnehmung dominiert die problematische Überlagerung verschiedenster Interessensfelder: Arabischer Nationalismus, religiöser Fundamentalismus, sozialistische Parteipolitik, Interessen von Minderheiten. Dabei gerät oft aus dem Blick, dass die frühen arabischen Metropolen Ursprungsort von Kosmopolitismus und praktizierter kultureller Vielfalt sind und sich in Ägypten, Palästina, Libanon, Jordanien, Syrien und Irak eine neue, lebendige Szene zeitgenössischer Kunst entwickelt hat. DisORIENTation präsentiert in einem Zeitraum von acht Wochen mit Ausstellungen, Theater, Konzerten, Kino, Lesungen und Podiumsdiskussionen erstmals umfassend diese aktuelle arabische Kunstproduktion in Deutschland. Die neue Künstlergeneration steht für einen Paradigmenwechsel in der künstlerischen Entwicklung des Nahen Ostens. Sie setzt sich ebenso kritisch mit dem Orientbild des Westens auseinander wie mit den sozialen, moralischen und politischen Bedingungen in ihrer Region. Das manifestiert sich auch in dem Problem der Zensur, das zunehmend von Künstlern selbst thematisiert und in der Auseinandersetzung mit tabuisierten Themen wie Homosexualität, weibliche Sexualität oder dem Konflikt von westlichen und östlichen Lebensformen provoziert wird. Diese neue Kunst ist politische Kunst, aber nicht als politisches Statement und nicht als engagierte Kunst, sondern als eine Kunst, die moralische Kategorien, die politische und religiöse Herrschaftsformen reflektiert und aufbricht. Der Orient ist eine Konstruktion der westlichen Welt. Dieses projizierte Bild prägte über ein Jahrhundert der Kolonialisierung und Befreiung auch die kulturelle Selbstwahrnehmung im Nahen Osten. Während sich die aktuelle Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsszene der arabischen Welt intensiv mit dem Aufbrechen dieser Zuschreibungen konfrontiert, leben die Orientalismen des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt fort. Hier definiert sich ein wesentlicher Aspekt des Programms, das sich ausführlich diesem Aufklärungsprozess stellt. Dies geschieht nicht nur auf einer theoretischen Ebene, vielmehr bringen die Kunstprojekte selbst auf höchst sinnliche Weise diese veränderte Perspektive zur Darstellung. Außerdem versucht DisORIENTation einen Bezug zwischen Berlin/Mitteleuropa und der arabischen Welt herzustellen und den Kontext der dortigen Kunstproduktion mit allen sozialen und politischen Implikationen zu zeigen. Von zentraler Bedeutung ist hier die Einrichtung eines interdisziplinären Laboratoriums mit ausgewählten Künstlern aus der Region, die in Berlin für das Projekt produzieren und in einen Austausch mit Berliner/deutschen Künstlern und Partnern eintreten. DisORIENTation entsteht in der direkten Kooperation zwischen Experten und Kulturinstitutionen in Syrien, Palästina und Ägypten und dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Das Filmprogramm wird von dem Dokumentarfilmer Omar Amiralay (Paris/ Damaskus/Beirut) kuratiert, der Bereich Performing Arts von dem Direktor des Young Arab Theatre Fund (Kairo/Brüssel) Tarek Abou El Fetouh, die Kunstausstellung von Jack Persekian, Gründer und Leiter der Anadiel Galerie und Direktor der Al-Ma'mal Foundation for Contemporary Art in Jerusalem verantwortet. Im Jugendprogramm zu DisORIENTation, "Belichtete Welt", werden augehend von fotografischem Material, ergänzt durch Video und Film, gemeinsam mit arabischen Künstlern Projekte zum Thema Erinnerung und Geschichte entwickelt und Orte der arabischen Communities in Berlin untersucht. DisOrientation - die Ausstellung >>> 20. März - 11. Mai 2003
Gibt es eine zeitgenössische arabische Kunst? Was bedeutet das Arabische für uns heute? Wie stark haben die Attentate des 11. September unsere Wahrnehmung der arabischen Welt erschüttert? Die Ausstellung DisORIENTation hinterfragt alte und aktuelle Orientbilder, die seit dem 11. September 2001 wieder Konjunktur haben. 13 arabische Künstler geben in dieser Ausstellung individuelle Antworten auf die Versuche kollektiver Vereinnahmung. Sie wollen weder Repräsentanten einer - in ihren Ländern weiterhin gepflegten - Nationalkunst darstellen, noch sich ins ethnische Ghetto der Exotik und Andersartigkeit abschieben lassen. Was ihre Arbeiten in ihrer Singularität vereint, ist die Haltung "to resist and fight stereotyping and consequent death of genuinely living things", schreibt der in Ost-Jerusalem lebende Kurator der Ausstellung Jack Persekian. Alle Künstler werden im Haus der Kulturen der Welt mit zwei Positionen vertreten sein, mit einer Neuproduktion und einer Arbeit, die bereits in der Region gezeigt wurde. Die in Berlin entstehenden Arbeiten werden auf die hiesige Situation Bezug nehmen und die Vermittlungs- und Rezeptionsbedingungen von Bildern aus der sogenannten arabischen Welt mit berücksichtigen. Einige Künstler entwickeln ihre Arbeiten in Laboratorien mit Berliner Künstlern, Kunststudenten und anderen Beteiligten weiter. Durch Diskussionsveranstaltungen, Workshops und künstlerischen Koproduktionen sollen diese Labs eine Fachöffentlichkeit schon vor der Ausstellungseröffnung erreichen und den prozessualen Charakter des Projektes herausstellen. Mit Arbeiten von Ahlam Shibli (Haifa), Susan Hefuna (Germany/Egypt), Ali Jabri (Amman), Khalil Rabah (Ramallah), Jumana Emil Abboud (Jerusalem), Lara Baladi (Kairo), Moataz Nasr (Kairo), Walid Raad (Beirut/New York), Akram Zaatari (Beirut), Lamia Joreige (Beirut), Roza El-Hassan (Budapest), Jananne Al Ani (London), Salah Saouli (Berlin, Beirut) DisORIENTation - Wortprogramm
In Lesungen, Vorträgen und Diskussionen werden zentrale Themen des Nahen Ostens aufgegriffen, die für die Künstler der Region in ästhetischer, gesellschaftlicher oder intellektueller Hinsicht von besonderer Bedeutung sind. Der palästinensisch-israelische Konflikt stellt eine Grundkonstante der Rahmenbedingungen für die künstlerische Produktion der gesamten Nah-Ost-Region dar. In einer Lesung am 21. März 2003 wird der libanesische Schriftsteller Elias Khoury seinen preisgekrönten Palästina-Roman "Das Sonnentor" präsentieren. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen werden die historischen Wahrnehmungen des Konfliktes ebenso diskutieren wie die Frage, inwieweit er die künstlerische Produktion im Nahen Osten beeinflusst, prägt oder beeinträchtigt. Der zweite Schwerpunkt am 5. April 2003 widmet sich der Frage nach der Beziehung von Ästhetik und Politik. Arabische Künstler aus dem Nahen Osten werden international stark vor dem Hintergrund der politischen Realität wahrgenommen. Da der Raum, in dem der Künstler arbeitet, extrem politisiert ist, kann sich der Künstler einer auch politischen Rezeption seines Werkes kaum entziehen. Kunst als immer auch zwangsläufiger Ausdruck oder Reflex politischer Realität ? Eine der Ausgangsthesen der Documenta 11 des Jahres 2002 wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis - insbesondere im Nahen Osten "Kreativität, Krise und Kritik" stehen. Dieses Thema wird im Haus der Kulturen der Welt von Kulturtheoretikern, Künstlern und Galeristen diskutiert. Im Umfeld einer Ausstellung in der AEDES-Galerie zu den Arbeiten des libanesischen Architekten Bernard Khoury wird sich Ende April 2003 ein Symposium den Themenfeldern "Geteilte Stadt" (Beirut, Jerusalem, Berlin) sowie "Erinnerung und Vergessen" widmen. Weitere Veranstaltungen werden sich mit dem Ort Bagdad/Irak und der Frauenbewegung in der arabischen Welt beschäftigen. DisORIENTation - Musikprogramm
Auch im Bereich der Musik wird im Nahen Osten experimentiert und weiterentwickelt. Musiker wie Mohamed Mounir, einer der populärsten Sänger in der arabischen Welt, stehen für neue Hörerlebnisse vor dem Hintergrund reicher Traditionen. Die Sängerin der bekannten palästinensischen Gruppe Sabreen, Kamilya Jubran, eröffnet dem arabischen Gesang ebenso neue Perspektiven wie Ilham Al-Madfai aus dem Irak. Dessen überragender Erfolg, mit dem er klassische und poetische Kompositionen bei unterschiedlichen Generationen wieder populär gemacht hat, ermutigte eine ganze Sängergeneration, sich wieder mit den hochkomplexen Liedformen zu beschäftigen. Die junge Musikergeneration mischt in ihren Stücken musikalische Einflüsse aus Ost und West. Die Gruppe Soap Kills verbindet, zwischen Beirut und Paris pendelnd, elektronische Klänge mit dem arabischen Klangerbe; in der Liste ihrer Vorbilder nennen sie Aphex Twin neben Fairuz. Und die libanesische Band Aks'ser führt den Rap in die Beiruter Musikszene ein. Mit: Mohamed Mounir (Ägypten), Soap Kills (Beirut/Paris), Aks'ser (Beirut), Kamilya Jubran (Palästina), Ilham Al-Madfai (Irak) DisORIENTation Theaterprogramm
Während sich in Tunesien und bedingt auch in Marokko ein neues Theater mit Fadhel Jaibi als herausragendem Regisseur in großem Format und in direktem Dialog mit dem westlichen Theater entwickelt hat, wird im Nahen Osten ein interdisziplinärer Zugang zu den Performing Arts sichtbar, der experimentell und politisch angelegt ist. Es handelt sich um eine kleine Gruppe von sehr jungen Künstlern vor allem im Libanon und in Ägypten, die sich von der Generation einer arabischen Moderne radikal verabschiedet. Die Performance-Künstler und Theatermacher setzen sich mit dem städtischen Raum, mit Fragen zur Identität zwischen Panarabismus, Fundamentalismus und aktueller Globalisierung auseinander. Die Texte sind selbst verfasst und setzen in bewusster Abgrenzung zu traditionellen hocharabischen Theatertexten auf die Alltagssprache. Für viele Performances kennzeichnend ist der Einsatz von Neuen Medien und die Arbeit mit Videobildern. Zum Beispiel die Theaterarbeiten von Ahmed El-Attar aus Kairo: El-Attars grotesk-sarkastisches Familienstück "Life is beautiful or Waiting for my uncle from America" gibt Einblicke in den Alltag einer ägyptischen Mittelklasse-Familie. Im Zentrum des Programms stehen jedoch neue Werke, die erst zu DisORIENTation fertiggestellt sein werden. Dazu gehört eine Videoperformance der Beiruter Regisseurin Abla Khoury, die drei junge in New York lebende Libanesen und ihre "amerikanischen Träume" vorstellt. Einen Werkauftrag vergibt das Haus der Kulturen der Welt an den Kairener Crossover-Künstler Sherif El Azma. Sherif El Azmas Performance-Video-Projekt mit Live-DJ dreht sich um ägyptische Flugbegleiterinnen. Ein weiterer Schwerpunkt des Programms widmet sich experimentellen Arbeiten im Schnittpunkt von Performance, Tanz, Musik und bildender Kunst. Hier arbeitet das Haus der Kulturen der Welt eng mit dem Young Arab Theatre Fund (YATF) zusammen. Im Februar 03 eröffnet der YATF ein neues Theaterzentrum im mittelägyptischen El-Minya . Dort wird für die erfolgreiche HKW-Reihe BACKROOM eine neue Ausgabe enstehen. Die Künstler: Ahmed el Attar, Abla Khoury, Sherif El Azma, Karima Mansour, Nermine Hamam, Bassem Wadia, Lila Sami, Saleeb Fawzy, Jean-Paul Bourelly B. B. Hammond, Félix Sabbalecco u. a. DisORIENTation: Film
Für das Kinoprogramm hat Kurator Omar Amiralay, selbst bekannter Regisseur aus Syrien, Filme ausgewählt, die für das unabhängige und innovative Gegenwartskino des Nahen Ostens stehen. Die Reihe umfasst zwei parallele, sich ergänzende Linien: Zum einen werden Werke von bereits arrivierten Regisseuren, Dramatikern und Dokumentarfilmern gezeigt. Ihre künstlerischen Biografien sind größtenteils durch die Entwicklung eines einzigartigen Stils und den Mut geprägt, Lebensrealitäten herauszufordern und gesellschaftliche Kernprobleme zu thematisieren. Zum anderen werden ausgewählte Werke junger Talente vorgeführt, die dem arabischen Kino kreative und neue Impulse geben. Im Verlauf der Reihe wird dem Publikum Gelegenheit gegeben, mit den Regisseuren über ihr Schaffen und die Kinofilmproduktion in ihren Heimatländern zu diskutieren. Mit Filmen von Mai Masri, Oussama Mohammad, Yousry Nasrallah, Ghassan Salhab, Elia Suleiman, Akram Zaatari, Omar Amiralay und anderen.
|