Poetische Grundstimmung Zentralasien übt eine magische Anziehungskraft auf uns aus. Die Region ist noch ein weißer Fleck auf unserer geografischen und mentalen Landkarte. Was weiß man schon von dieser Gegend? Jurten, Herden, Nomaden, Schamanen, Dschingis Khan, Tamerlan: klingende Wörter und Namen. Samarkand, Taschkent, Tschimkent, Almaty, Astana, Aschgabad: wo liegen diese Orte eigentlich genau? Auf der Landkarte erweisen sich die Länder Zentralasiens als Teil eines verzwickten Puzzle-Spiels. Unser Nicht-Wissen reizt uns, wie alles, was uns fremd ist: die Wüste, die Steppe, die 7000 Meter hohen Gebirge, das Fehlen des Meeres, die Einöde an der Peripherie, der langsam versiegende Aralsee. Etwas Seltsameres als diesen See gibt es wohl kaum in Zentralasien. Er wird immer kleiner, große Schiffe liegen gestrandet in der Wüste. Die Insel in seiner Mitte wird zur Halbinsel, die Behälter der auf ihr gelagerten biologischen Waffenvorräte wie etwa Milzbranderreger verrosten immer mehr. Mächtige Sandstürme durchziehen das Land, eine riesige Umweltkatastrophe bahnt sich an. Das Medium Film zeigt sich in der Verarbeitung dieser Problematik besonders sensibel: Hinter der poetischen Grundstimmung des Kurzfilms "Taschnalik" (Thirst, Usbekistan 1999) von Tahir Junus verbirgt sich ein bitterer Pessimismus bezüglich dieses ökologischen Desasters, das die verheerende und kurzsichtige Umwelt- und Wirtschaftspolitik der Sowjetunion in den vergangenen Jahrzehnten angerichtet hat. Auch "Strejndscher" (Stranger, Kasachstan 1993) des in Aralsk geborenen Timur Sulemejnov zeigt das Seltsame, Unverständliche und sogar Tödliche der zentralasiatischen Weite besonders klar. Ein Amerikaner kommt im Rahmen eines Forschungsprogramms an den Aralsee. Sein Spezialgebiet ist pathologische Anatomie. Sein Freund, bei dem er wohnt, stirbt plötzlich aber die Leute behaupten, er sei in Wahrheit schon seit Tagen tot gewesen. Wie es scheint, hat ihn ein kleiner Junge mit parapsychologischen Fähigkeiten ermordet: Er bringt jeden um, den er als Bedrohung für seine Beziehung zu seiner Mutter ansieht. Die besondere Stimmung Zentralasiens wird auch in "Jol" (The Road, Kasachstan 2001) deutlich, dem neuesten Film von Darezhan Omirbaev. Ein träumerisches Road-Movie in endlosen Weiten, in dem der Regisseur die stagnierende Entwicklung seines Landes in einem nüchternen, fast dokumentarischen Stil beschreibt, aber gleichzeitig diese Realität in einer Anzahl poetischer Abschweifungen verlässt. Dieser Film wurde auch im Wettbewerb des Filmfestivals in Cannes gezeigt. Die große Versorgerin
Film ist allerdings nicht mehr, wie Lenin postulierte, "die wichtigste aller Künste". Bis zum Zerfall der UdSSR war das zentralasiatische Kino ein Teil des gesamten sowjetischen Filmwesens. Alles, von den Filmstudios über die Techniker bis hin zu den Regisseuren, den Drehbüchern und dem Filmverleih, war zentralistisch organisiert und verwaltet. Man lernte auf der VGIK, der Moskauer Filmschule, man war Mitglied der Union der Filmschaffenden, und man ließ sich von staatlichen Stellen kontrollieren und zensieren. Die Sowjetunion war die große Versorgerin. Jede Republik bekam ihr eigenes nationales Filmstudio: Usbekfilm, Kasachfilm, und in den Fünfziger- und Sechzigerjahren kamen Tadschikfilm, Turkmenfilm und Kirgisfilm hinzu. Es war genau geplant, wie viele Filme jährlich gedreht werden sollten: zum Beispiel zwölf in Usbekistan und fünf in Turkmenistan. Geld spielte eigentlich keine Rolle und Zeit war genug vorhanden. Man konnte sich zwar nicht ganz frei ausdrücken, aber die Mittel, etwas Interessantes und auch künstlerisch Wertvolles zu schaffen, waren gegeben. In der kommunistischen Ära entstanden in Zentralasien viele schöne Filme voller Poesie, Folklore und Lebensweisheit, publikumswirksam und trotzdem nicht kitschig. In den Sechzigerjahren erreichte der usbekische Film eine Blüte: Ali Khamraev drehte "Weiße, weiße Störche" (1966), Elyer Ishmukhamedov die Filme "Zärtlichkeit" (1966) und "Die Verliebten" (1969). In Turkmenistan schuf Khodjakuly Narliev mit "Die Schwiegertochter" (1972) einen Klassiker. Die hochstilisierten, schwarzweiß gedrehten Cinemascope-Filme von Bulat Mansurov zeigten die turkmenische Wüste in ihrer Kargheit und Schönheit. Der kirgisische Schriftsteller Chingiz Aitmatov, der heute als Botschafter bei der EU in Brüssel lebt und in Deutschland immer wieder gut besuchte Lesungen hält, beschrieb die zentralasiatische Landschaft und ihre Mythen derart eingängig, dass nach seinen Büchern an die dreißig Filme entstanden. "Der weiße Dampfer" (1975) und "Frühe Kraniche" (1979) des kirgisischen Regisseurs Bolotbek Shamshiev sowie "Mankurt" (Manwolf, Turkmenistan 1989) von Khodjakuly Narliev gehören dabei zu den eindrucksvollsten. Neue Wellen
Schon früher hat es verschiedene "Wellen" gegeben, etwa die Kirgisische oder die Tadschikische Neue Welle. Doch erst die Kasachische Neue Welle machte das zentralasiatische Kino einem westlichen Publikum bekannt. In der Phase der Perestroika und Glasnost, die durch enorme Zunahme der Meinungsfreiheit und Lockerung der zentralistischen Planung gekennzeichnet war, begann eine Gruppe kasachischer VGIK-Studenten darunter Darezhan Omirbaev, Rashid Nugmanov und Serik Aprymov ihre privat finanzierten Filme zu präsentieren. Diese waren nicht mehr so "künstlerisch wertvoll" wie die Staats-Filme früherer Jahrzehnte, sondern wilder und jünger. Nugmanovs RocknRoll-Film "Igla" (The Needle, Kasachstan 1998), mit dem Rockstar Victor Tsoj in der Hauptrolle, kam in über 1000 Kopien in die Kinos und wurde zu einem der erfolgreichsten Filme der Sowjetunion. Die Kasachische Neue Welle ist inzwischen verebbt. Die alte sowjetische Infrastruktur besteht nicht mehr, es gibt kaum noch Finanzierung vom Staat, das Publikum interessiert sich für seine eigene Filmkultur nicht mehr, sondern will amerikanische oder höchstens noch indische Filme sehen. Die Filmstudios sind in desolatem Zustand: Die Kasachfilm-Studios stehen halb leer. Omirbaevs "Jol" war im Jahr 2000 der einzige Film, der zumindest in Teilen dort gedreht wurde. Kirgisfilm hat Kurzarbeit eingeführt. In und um Duschanbe, Sitz der Tadschikfilm, herrschte jahrelang ein Bürgerkrieg, der zwischen 20.000 und 50.000 Tote forderte und eine Million Menschen zu Flüchtlingen machte. Ein großer Teil der Turkmenfilm musste dem Neubau eines Stadions weichen. Präsident Turkmenbaschi hat zwar ein brandneues Studio versprochen, "sobald das Öl fließt". Dazu fehlt aber die nötige Infrastruktur. Immerhin gibt es in Turkmenistan aber noch Reste staatlicher Filmförderung. Eine bescheidene Anzahl altgedienter Regisseure aus der Zeit des Kommunismus bekommt regelmäßig Spielfilmaufträge. Nur Eduard Redjepov gelang es, seine Tragikomödie "Ochlamon" (1994) privat zu finanzieren. Am meisten Betrieb ist bei Usbekfilm, der Staat finanziert mehrere Filme pro Jahr, und eine westlich orientierte Firma versucht, die Ressourcen des Studios zu vermarkten und ausländische Produktionen ins Land zu bringen. Ein nicht unbedeutender Teil des gesamten Filmbudgets wurde dabei verwendet, ein eigenes nationales Filmepos zu kreieren. Es ist den Abenteuern des Eroberers und Feudalherrschers Timur dem Lahmen gewidmet, im Westen besser bekannt unter dem Namen Tamerlan. Der usbekische Film "Yaratganga shukur" (I Wish, Regie: Zulfikar Musakov), eine Koproduktion mit Japan aus dem Jahr 1997, hat ebenfalls nationalistische Anklänge. Der Film handelt vom Leben eines Arbeiters, der eines Tages entdeckt, dass er über magische Fähigkeiten verfügt. Der Mann versucht, mit seinen neuen Kräften zurechtzukommen und langsam auch zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Der Filmkritiker Stefan Steinberg schreibt dazu: "An einen im Grunde verwirrten Film wurde ein noch schlimmeres Ende gesetzt, bei dem der Protagonist seinen letzten Wunsch äußert: Ein Usbeke soll der erste Mensch sein, der den Mars betritt. In einer peinlichen Schlussszene sehen wir einen schwerelosen Astronauten, der durch eine auffallend unechte Marslandschaft stolpert, um die usbekische Fahne auf einen kleinen Hügel zu pflanzen." Weniger Nationalismus dagegen in Kasachstan: Nur mit Mühe konnte Ardak Amirkulov die Finanzierung für die Verfilmung von kasachischen Themen wie "Der Fall von Otrar" (1992) über den Nationaldichter Abaj sicherstellen. Auch Bolat Sharip hätte seinen als nationales Epos konzipierten Film "Zaman-ay" (1997) gerne etwas aufwendiger gestaltet. Kleine Budgets
Die Umstellung von der Plan- zur Privatwirtschaft fällt vielen Filmemachern schwer. Unter den bestehenden Verhältnissen einen Film fertig zu stellen ist eine außerordentliche Leistung. Aber in Zentralasien lässt sich schon mit 40 000 Dollar ein Spielfilm drehen, wie zum Beispiel "Parvaz-e zanbur" (Der Flug der Biene, Tadschikistan/Südkorea 1998), der in einem Dorf im Norden Tadschikistans gedreht wurde. Die Familie des Koregisseurs Jamshed Usmonov gab den Mitarbeitern dabei Obdach und Verpflegung. Der Vater verkaufte eine Kuh, damit Benzin da war für Stromaggregat und Beleuchtung. Die Filme, die seit 1991 gedreht wurden, sind technisch meist bescheidener als zur Sowjetzeit. Einige Studios können keine Farbfilme entwickeln, und auch sonst mangelt es an modernen technischen Geräten. Die meisten Kurzfilme werden zwar auf 35 mm gedreht, oft jedoch in Schwarzweiß, Sepia oder verschiedenen Tönungen. Zum Teil verzichten sie auf Synchronton. Nur die Filme, die mit ausländischem Geld gedreht wurden, sind technisch "einwandfrei". Erst in ihnen wird die Schönheit der Region und ihrer Bewohner richtig sichtbar, so bei "Beschkempir" oder "Jol". Im zentralasiatischen Film sind die Darsteller oft Laien. Das ist nicht nur aus Gründen der Ersparnis so, es scheint zum Stil der Filme auch besser zu passen: Es ist zum Markenzeichen des zentralasiatischen Films geworden. In allen Filmen seiner Trilogie lässt Aktan Abdykalykov seinen Sohn Mirlan auftreten. Der kasachische Laiendarsteller Talgat Asetov verkörpert in Darezhan Omirbaevs "Killer" (Kasachstan 1998) perfekt den unschuldigen Mörder. Von einigen Ausnahmen abgesehen sind zentralasiatische Filme eher Low-Budget-Produktionen. Das Drehbuch ist meist nicht besonders ausführlich, oft wird improvisiert. Die Dialoge sind spärlich das hat wohl auch mit der Wortkargheit der zentralasiatischen Bevölkerung zu tun. Manche der zentralasiatischen Filme werden nun mit ausländischem Kapital finanziert: Immerhin wird damit eine Art Entwicklungshilfe geleistet. Der ehemalige japanische Marineoffizier Sano Shinju produzierte die beiden neuesten Filme von Serik Aprymov, "Aksuat" und "Drei Brüder"; eine japanische Fernsehstation die Komödie "I Wish" von Mussakov. Die französischen Firmen Artcam und Celluloid Dreams finanzierten die letzten beiden Filme von Darezhan Omirbaev, dem bislang international erfolgreichsten zentralasiatischen Filmemacher. Französisches Geld steckt auch hinter "Beshkempir" (The Adopted Son, Kirgisistan 1998) und "Maimil" (The Chimp, Frankreich/Kirgisistan/ Japan 2001) des neuen Stars des kirgisischen Kinos, Aktan Abdykalykov. Franzosen, Deutsche und Österreicher schließlich produzierten das Film-Spektakel von Bakhtyar Khudojnazarov, "Luna Papa". Federführend war dabei Karl Baumgartner, der sich als Produzent von ungewöhnlichen Filmen in fremden Ländern einen Namen gemacht hat. Nebenbei nützen Ausländer das Ambiente Zentralasiens für ihre eigenen Filme: Für 1,8 Millionen Dollar (das Geld stammte aus Frankreich, Deutschland und Ungarn) drehte Márta Mészarós den letzten Teil ihrer autobiografischen Filmtriologie in Kirgisistan ("Kisvilma Az utolsó napló", Ungarn 2000). Ebenfalls in Kirgisistan filmte Frank Müller seine abendfüllende Dokumentation "Wo der Himmel die Erde berührt". Der Russe Sergey Dvortsevoj drehte die Kinodokumentation "Trassa" ("Highway", Kasachstan / Frankreich / Deutschland 1999) über eine Zirkusfamilie in Kasachstan. Galina Slepneva von der usbekischen Firma Tasvir-Invest hat einen Katalog der zentralasiatischen Stuntleute zusammengestellt. Sie hofft, dass westliche Filmproduktionen eines Tages auf das außerordentliche Können von Reitern in Zentralasien aufmerksam werden. Themen und Tabus
Politisch sind zentralasiatische Filme eher enttäuschend. Direkte Bezüge zur Politik werden meist vermieden; viel öfter wird mit Metaphern gearbeitet, und es werden Träume und Kindheitserinnerungen dargestellt. Eine der wenigen Auseinandersetzungen mit den Problemen der heutigen Zeit ist Darezhan Omirbaevs "Killer" (Frankreich / Kasachstan 1998), in dem ein extrem pessimistisches Bild postsowjetischer (Un-)Ordnung gezeigt wird. Staatliche Zensur gibt es in Zentralasien zwar nicht, trotzdem werden bestimmte Themen, vor allem Sex und Gewalt, vermieden. Tabu ist insbesondere jede Kritik am herrschenden Regime. In keinem zentralasiatischen Film geht es ums Öl, staatliche Korruption oder den islamischen Fundamentalismus. Am ehesten noch um die Lage der Frau, wie etwa in den Filmen "Khoudjoum" (The Offence, Usbekistan 1987) und "Yallanga" (The Flame, Usbekistan 1988) von Shukhrat Makhmudov. Filme über Frauen gibt es in Zentralasien viele. Ali Chamraev beispielsweise, der in allen möglichen dramatischen Genres, wie Film, Theater und Oper gearbeitet hat, ist bekannt dafür, dass er für Frauen immer wieder großartige Rollen fand. "Ayollar saltanati" (Womens Paradise, Usbekistan 1999) erinnert an Fellini oder Almodóvar. In einer surrealen Traumreise begegnet der Schriftsteller und Professor Olmi den Frauen seines Lebens. Immer wieder findet sich Olmi im Wachzustand an unwirklich scheinenden Orten wieder, und die Steppenlandschaft Usbekistans öffnet sich ihm in symbolischen Bildern. Regisseurinnen gibt es dagegen wenige. Die prominenteste ist die Usbekin Kamara Kamalova, die seit 1975 rund zehn Spielfilme drehte, unter anderem "A Bitter Fruit" (1975) und "All Around was Covered by Snow" (1995). Die usbekische Schauspielerin Rano Kubaeva drehte mit "Mladjaya" (The Youngest) 1994 ihren ersten halblangen Spielfilm. Die 1959 in Tadschikistans Hauptstadt Duschanbe geborene Gulya Mirzoeva verließ ihre Heimat 1992, zu Beginn des Bürgerkriegs, und lebt nun in Frankreich. Nach einigen Kurzfilmen drehte sie 1999 mit "Behind the Forest" ihren ersten Spielfilm. In "Retour à Douchanbe" (Frankreich 2000) beschreibt sie ihr Leben zwischen zwei Kulturen und kommt zu dem Schluss: "Man darf niemals in ein Land zurückkehren, in dem man glücklich war." Mehr als 20 Jahre lang war Herbert Krill für den ORF und für das ZDF Berichterstatter über Filme aus Hollywood, dabei machte er über 1500 Interviews mit Filmleuten. Außerdem drehte er Dokumentationen zu Filmthemen, hauptsächlich für die Reihe "Filmforum" in ZDF, ORF und ARTE. Die wichtigsten waren: "Wo Götter noch Götter sind" über Bollywood, "Allein gegen die Samurai" über Filmemacherinnen in Japan, "Ferner Osten/Wilder Westen" über asiatisch-amerikanische Filmemacher sowie "Kino im Pulverfass" über Filmemacher im neuen Jugoslawien. 1996 entstand der Dokumentarfilm über den Buddhismus im Westen "Was geht uns Buddha an?" Seine neueste Dokumentation heißt "Mit anderen Augen" und porträtiert Filmemacher zwischen Wien, Sarajevo und Belgrad. Der 1949 in Wien geborene Krill lebt seit 1975 teilweise in den USA, derzeit im Gebiet der Bucht von San Francisco.
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