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Am 11. September
Notizen einer Reise nach Buchara, Samarkand und Taschkent

Alltag, Grenzerfahrung, Himmel, Identität, Islam, Katastrophe, Mythos, Umbruch, Wüste
Am 11. September reist Sabine Vogel durch Usbekistan, von Buchara nach Samarkand. In ihren Notizen beschreibt sie die Standortsuche der noch jungen Gesellschaften zwischen Resten einer glorreichen Vergangenheit, sowjetischen Strukturen und der westlichen Marktwirtschaft.

Von Sabine Vogel

"Wohin sollte ich anschließend reisen? Für mich war Samarkand das äußerste Ende des Orients, der Ort aller Wunder und einer unergründlichen Nostalgie. Als ich die Stadt verließ, beschloss ich, erst einmal nach Hause zurückzukehren. (...) In irgendeiner großen Weltstadt, Paris, Wien oder New York, in der niemand uns kannte, im Abendland zu leben, aber im Rhythmus des Orients – wäre das nicht das Paradies?" So sinniert der Amerikaner Benjamin Omar in Amin Maaloufs märchenhaftem Roman "Samarkand" aus dem Jahr 1988. Um seinen Traum zu verwirklichen, nimmt er seine Prinzessin Shirin und die sagenumwobene Handschrift eines Schriftgelehrten aus dem 11. Jahrhundert auf die letzte Fahrt der Titanic nach Amerika mit, er überlebt deren Untergang und verliert aber schließlich doch alles.


Buchara I – Minarette und Dollars

Wir wussten genau, wohin wir reisen wollten. Am Morgen des 11. September brachen wir nach einem ausgedehnten Frühstück von Samarkand, dem "schönsten Antlitz, das die Erde der Sonne je zugewandt hat", ins rund 250 Kilometer entfernte Buchara auf. Auch Buchara hat eine über tausendjährige Geschichte als Oase der Wissenschaft und der Kultur, über die Erbfolge- und Religionskriege in Wellen der Vernichtung rollten. Das Wahrzeichen Bucharas ist das Minarett Kalan, ein fast 50 Meter hoher Turm aus vormongolischer Zeit im Stadtzentrum. Von dort riefen jahrhundertelang die Muezzine zum Gebet, und von ihm wurden die zum Tode Verurteilten heruntergestürzt.
Äpfel, Trauben und Nüsse dekorierten den niedrigen Tisch auf einem Holzpodest, das mit Teppichen und Kissen ausgelegt war. Vor dieser orientalischen Frühstücksbühne stand ein Springbrunnen, wie der ganze Innenhof weiß gestrichen. Es gab noch kein Wasser darin, denn die "B&B"-Pension "Timur the Great" war nagelneu und erst seit zwei Monaten in Betrieb. Fünf Jahre, erzählte der stolze Besitzer, hatte er auf die Genehmigung für sein Privathotel gewartet. Nun ließ er es seinen Gästen an nichts fehlen. Der gläubige Moslem hatte am Abend zuvor sogar – sichtlich widerstrebend – Bier für die Devisenzahler besorgt. Fast alle Hotels, in denen wir auf unserer dreiwöchigen Reise durch Kasachstan, Usbekistan und Kirgisistan nächtigten, wurden in Dollars berechnet und kosteten umgerechnet durchschnittlich den Monatslohn eines Einheimischen. Aber statt der staatlich geführten, unterkühlten Funktionärspaläste, wie etwa das "Kosmonaut" im kasachischen Karaganda, dem man den Zerfall der Sowjetunion im verschossenen Rot des Teppichbodens und der Polstermöbel ansah, lernten wir in Usbekistan die Vorzüge einer beginnenden Privatwirtschaft kennen: "Western Standard!"


Taschkent I – Rückblick

Taschkent bietet nicht nur neonhelle Straßencafés und armenische Gartenrestaurants, in denen man unter Weinlaub bewirtet wird, es hat auch mehrere staatliche Museen für zeitgenössische Kunst. Es richtet eine Zentralasiatische Kunstbiennale aus und die Kunstwissenschaftliche Fakultät der Universität publiziert ein monatlich erscheinendes Kunstmagazin. Junge Künstler rebellieren gegen einen noch immer mächtigen Künstlerverband und empören sich darüber, dass die Funktionäre nach wie vor das Monopol für die Vergabe von staatlichen Denkmalsaufträgen haben. "Nach Erlangen der staatlichen Unabhängigkeit im Jahre 1991 befreiten sich die Künstler Usbekistans vom Diktat des sozialistischen Realismus, einer Form staatlicher Zensur in der Sowjetzeit. Damit begann eine neue Ära in der Entwicklung der Bildenden Kunst Usbekistans. Realistische Darstellung und soziale Problematik sind nicht mehr unabdingbare Elemente eines jeden usbekischen Kunstwerks", schreibt Professor Akbar Chakimow in einer kleinen Broschüre zu einer Ausstellung auf Initiative der Deutschen Welle 1998 in Köln. Die einzige bedeutende Moschee im zugigen Stadtzentrum könnte architektonisch auch das Stadion der Pioniere sein. Am Stadtrand entstehen gigantische Neubaugebiete nach einem staatlichen Entwicklungsplan, mit rechtwinkligen Straßen und Bushaltestellen. Die Riegel der mit orientalischen Fertigornamenten dekorierten Plattenbauten liegen unwirklich im gleißend weißen Sonnenlicht. Bäume und weite Alleen, auf denen achtspurig die Autos Platz haben. Busse mit Oberleitungen, Straßenbahnen. Neue Bürgersteige, deren Asphaltbelag schon wieder aufgeplatzt ist, Leerräume zwischen den Häusern, die an die Relikte eines Erdbebens erinnern, doch auch Buden, Kioske, Läden, Restaurants unter gestreiften Plastiksonnendächern. Einheits- design des Sowjetismus – eine funktionierende moderne Stadt mit protzigen Repräsentationsbauten und sauber geharkten Stadtparks, in denen die Springbrunnen sprudeln und Soldaten patroullieren. In einer niedrigen Lehmhütte wird Fladenbrot gebacken wie vor tausenden von Jahren. Unser Zimmer hat TV und eine gekühlte Minibar, es führt in einen schattigen Innenhof mit gepflegtem Rasen, aus den Badezimmerarmaturen fließt unbegrenzt heißes Wasser, die Rezeption hat Internetanschluss. Nur die Telefonverbindungen sind eine Katastrophe.


Unterwegs

Pünktlich um neun des noch kühlen Morgens stand Vasily mit seinem blank polierten weißen Wolga vor der Tür. Vasily war Taxifahrer und wir hatten ihn am Vorabend quasi von der Straße weg für eine Drei-Tages-Tour engagiert. Kilometerweit ins Land hinein ist der Mittelstreifen der vierspurigen Autobahn mit jungen Bäumen bepflanzt. Sie stehen in regelmäßigen kurzen Abständen und jeder ist von einem vollkommenen Kreis aus weiß gestrichenen Kieselsteinen umhegt. Der Staat begegnet uns in Form von gut einem Dutzend Polizeikontrollen. Betonblocks engen die Überlandstraße auf eine Spur ein. Im Schatten vor einem Wärterhäuschen steht ein winziger Tisch, an dem zwei Beamte sitzen, ein offener Schlagbaum, ein Stoppschild. Man muss also anhalten. Wenn die Uniformierten einen betont desinteressierten Blick zeigen, einen gelangweilt ignorieren, ist das die Aufforderung weiterzufahren. Die willkürlichen Straßensperren, so heißt es, gelten der Suche nach islamischen Terroristen. Der Präsident Islam Karimov soll vor kurzem nur durch eine zehnminütige Verspätung einem Bombenattentat entgangen sein. Aber das sei wiederum nur Propaganda, um die anhaltende Unterdrückung der Meinungsfreiheit zu legitimieren und sowieso alter Sowjetmechanismus. Stundenlang schaukeln wir in Vasilys Limousine an endlosen Baumwollfeldern vorbei. Monströse, aber in der Weite der Landschaft verschwindende Monumente mit gelb angestrichenen Sonnenstrahlen und verwitternden Aufbauparolen ziehen vorüber. Baumwolldolden aus Gussbeton, von denen die Farbe abblättert, künden vom Reichtum Usbekistans. Die sowjetische Landreform hatte in den Dreißigerjahren die Baumwollkolchosen eingeführt, die Monokultur verdrängte die traditionelle Getreidewirtschaft und den Reisanbau. Das hatte zu einer Hungersnot geführt, in der Millionen von Menschen starben. Mit großer Hoffnung auf die Revolution beschrieb die Schweizerin Ella Maillart in ihrem Reisebericht "Turkestan Solo" aus den frühen Dreißigerjahren die Fortschritte der Kolonisierung: 1924 konnten zehn Prozent der Usbeken lesen und schreiben, 1932 sind es bereits 60 Prozent. Heute, so erzählen meine Reisegefährten, verdienen die Baumwollpflückerinnen etwa fünf Dollar im Monat, die sie zumeist in Öl und Zuckereinheiten ausbezahlt bekommen. Man hegt eine nahezu surreale Hoffnung auf die neue Zeit, auf freie Marktwirtschaft und ausländische Investoren, welche die korrupten Staatsbetriebe privatisieren und ins Arkadien des Kapitalismus überführen sollen.


Am Tag davor – Samarkand

Der Markt von Samarkand ist üppig und bunt, einer jahrtausendealten Handelsmetropole an der Seidenstraße angemessen. Birnen und Äpfel und Melonen zu Bergen aufgehäuft, Pyramiden aus Zucker und Salz. Die westlichen Waren kommen aus dem Osten, HiFi aus Hongkong und T-Shirts aus Taiwan. Doch deswegen waren wir nicht hier. Nachdem wir Quartier in der neuzeitlichen Bed-and-Breakfast-Karawanserei nahe dem von drei Medresen umrahmten Registan-Platz bezogen hatten, wendeten wir uns, angeführt von Vasily, unverzüglich der Besichtigung der Kulturschätze zu. Staunend taumelten wir durch die Orgie der Blautöne, verdrehten unsere Augen an türkis gemusterten Kacheln auf gezwirbelten Säulen und gefältelten Zwiebeldächern entlang bis in den Himmel, um im majestätischen Monochromblau der Hauptkuppeln fast die Sinne zu verlieren. Wie die wenigen anderen weither gereisten Touristen trieben wir durch ein Meer von Ornamentik und wurden in den Höfen und Erkern von einem Bazar mit Teppichen und Souvenirs eingefangen. Überall lärmige Musik aus Kassettenrekordern und die durchdringende Stimme eines lokalen Radiomoderators. Mit dem schnellen Einbruch der Dunkelheit leerte sich der Marktflecken, die Innenstadt war nahezu auf einen Glockenschlag hin ausgestorben. Samarkand bei Nacht? In einem grünen Außenbezirk fand sich schließlich ein volksgartengroßes Restaurant, in dem Schaschlik an offenen Grillfeuern brät und in dem für das "musical design" einer elektronisch verstärkten Band eine festgesetzte Abgabe verlangt wird.


Buchara II – Moscheen und CNN

Bei der Ausfahrt aus Samarkand machten wir noch kurz Station beim Observatorium von Ulughbek, einem Nachfahren Tamerlans. Der direkt in den Felsen getriebene Sextant von 40 Metern Radius wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt und freigelegt. Ohne Teleskop wurden in dieser erdbebensicheren Sternwarte im 15. Jahrhundert präzise der Meridian Samarkands bestimmt und die astronomische Grundlage für die Kalender des Mittelalters geschaffen. An einer Tankstelle wartete Vasily den Wagen, füllte Plastikflaschen mit Öl und Wasserkanister auf, und ab durch die Steppe. Aber schon kurz nach Samarkand verreckt unser Wolga. Vergeblich versucht Vasily Autos anzuhalten. Wir sind nirgendwo, die Erde ist von der Sommerglut grauweiß erbleicht, der hitzeflirrende Horizont ist weit und platt, wir hocken im Schatten eines kümmerlichen Quittenbaumes im Straßengraben. Als dann doch nach Stunden ein Bus sich unser erbarmt, stürzen wir hin und lassen unseren unglücklichen Chauffeur mit dem kaputten Wolga zurück, in der sicheren Überzeugung, ihn nie wieder zu sehen. Der Bus sieht nicht sehr vertrauenserweckend aus und ist völlig überfüllt, aber man macht sogleich Plätze für uns frei. Es duftet nach dem frischen, sesambestreuten Brot aus Samarkand, das alle Bauersfrauen auf dem Schoß haben. Ein angeheiterter Kavalier, der den Sitz neben seiner Frau räumt, bietet mir gelblich trübes Wasser aus einer Plastikflasche an, das ich unter Valerias warnstuferotem Blick dankend ablehne. Wir erreichen Buchara am Spätnachmittag. Der Besitzer von "Timor the Great" hatte uns "Fatima" direkt in der Altstadt empfohlen. Lauter Frauen sind es, die das kleine Privathotel betreiben. Wieder gehen die Zimmer zu einem weiß getünchten Innenhof ab, in dem ein Podest mit Teppichen und Kissen steht. Schock. Wieder laufen wir wie Traumwandler durch eine geradezu monströse Ansammlung lebendiger Geschichte. Die Medresen und Moscheen sind zu Museen restauriert, dahinter verwinkelte Gassen, weiße Lehmbauten, immer neue Perspektiven auf Märchenarchitekturen aus 1001 Nacht. Und wie aus dem Nichts taucht Vasily auf. Er hat den Wolga repariert, er hat geduscht und uns in einer Gartenkneipe gefunden. Vasily ist gelernter Koch, er ist in Taschkent geboren, aber als Russe sieht er keine Zukunft mehr hier. Er will nach Königsberg auswandern. Kurz vor Mitternacht bringt uns die Hausherrin Fatima noch eine Kanne grünen Tee in den Hof. Eine hinzukommende Touristin erzählt ungereimt, Terroristen hätten Amerika oder so angegriffen. Fatima heizt noch den tonnenförmigen Gasofen für unser Bad am Morgen an. Das Frühstück nehmen wir im europäisch eingerichteten Wohnzimmer ein, dabei sehen wir die unscharfen CNN-Bilder im russischen Fernsehen. Die Nachrichtenlage ist völlig wirr. Der usbekische Präsisdent versichert permanent seine Solidarität mit den Opfern. Schon bald heißt es, die Piloten stammten aus Usbekistan.

Taschkent II – Afghanistan im Wohnzimmer

Vasily ist inzwischen auf den Reisegeschmack gekommen und will weiter nach Chiva durch die Rote Wüste. Aber nach einer kurzen Shoppingtour im Bazar der großen Medrese fahren wir wie geplant zurück nach Taschkent. In der Nähe von Truckstopps stehen Frauen mitten auf der Fahrbahn und bieten sich an. Eselkarren zuckeln in Gegenrichtung am Straßenrand entlang, Lkws, Hitze, Gegenlicht. Staub. Wir brauchen fast zehn Stunden zurück in die Hauptstadt. In einer leeren Imbisshalle essen wir noch zusammen mit Vasily zu Abend, tauschen Adressen aus und verabreden uns für "nächstes Jahr in Kaliningrad", wenn Vasily dort sein Hotel führt. Auf der Straße singt eine junge Koreanerin zu einer Karaoke-Anlage. Um Hotelgeld zu sparen, und weil unser Flugzeug nach Bischkek schon um fünf Uhr früh geht, übernachten wir bei Valerias Verwandten in deren kleiner Plattenbauwohnung. Der 72-jährige Onkel war Elektroingenieur, heute muss er seine ärmliche Pension als Wachschützer aufbessern. Die Tante mit feuerrot gefärbten Haaren hat natürlich gekocht für uns, es gibt Plow, den fetten Reis mit Möhrenschnipseln und ein paar Brocken Hammelfleisch, danach süße blaue Trauben und kostbaren russischen Cognac, der seit Jahren im Regal stand und uns zu Ehren geopfert wird. Im Fernseher laufen die Bilder aus New York wieder und wieder, als würden sie dadurch glaubhafter, es ist die Rede von Kabul. Unsere Gastgeber haben von 1982 bis 1984 in Afghanistan gearbeitet. Aus dem Wohnzimmerschrank wird ein Buch hervorgeholt, mit dem man den beiden für ihren Einsatz gedankt hat. Die Fotografien zeigen neu gebaute Elektrizitätswerke und Staudämme, stolze sowjetische Ingenieure verbrüdert mit lachenden afghanischen Funktionären und Fähnchen schwenkendem Volk, junge Frauen, Studentinnen in modischer westlicher Kleidung. Die Propagandabilder des sowjetisch "befreiten" Afghanistans lügen heute noch einmal anders. Sie sind ein Phantom, das die beiden alten Leute gesehen haben, bevor die Bilder aus Afghanistan für lange Zeit ganz verschwanden.


Der Abschied

Am Flughafen dann herrscht das übliche Chaos und Gedränge. Weder die usbekischen noch die kirgisischen Zollbeamten wollen Ein- oder Ausfuhrdeklarationen sehen, man muss zwar den Namen seines Vaters in ein Formular eintragen, dafür aber keine Passnummer angeben. Die Sonne geht über Schneegipfeln auf. Unsere Weiterreise von Bischkek nach Duschanbe in Tadschikistan müssen wir stornieren, unser Einreisevisum wird zurückgezogen, alle Ausländer, so heißt es, würden schon evakuiert. Die erzwungene Änderung des Plans beschert uns einen Umweg zum Issykul-See. Doch das ist eine andere Geschichte.

Sabine Vogel wurde in Künzelsau geboren und hat in Köln im Fach Kunstgeschichte promoviert. Sie arbeitet als Kulturredakteurin bei der Berliner Zeitung und ist – zusammen mit Valeria Ibrayeva, der Leiterin des Soros Centers for Contemporary Art in Almaty – Kuratorin der Ausstellung "No Mad’s Land". Zuvor war sie Redakteurin bei der "taz" und der Zeitschrift "Neue Bildende Kunst", später Programmkoordinatorin im Bereich Bildende Kunst im Haus der Kulturen der Welt. Sie ist Autorin des Buches "Auf Dienstreisen" (Berlin 1999).