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Ein Interview mit dem Schriftsteller Sherboto Tokombaev
Erinnerung, Identität, Postmoderne, Schönheit, Tradition, Zensur, orale Tradition
Ein literarisches Leben in Kirgisistan existert kaum. Junge Autoren haben es sehr schwer zu publizieren. Doch das Internet eröffnet neue Chancen.

Interview: Sven Arnold und Katharina Narbutovic

Sherboto Tokombaev, geboren 1974, lebt als Lyriker und Prosaautor in Bischkek, Kirgisistan. Er ist ausgebildeter Journalist, arbeitet als Manager einer Firma, die Autobatterien herstellt und sieht sich als Schriftsteller in der Mitte von östlichen und westlichen Traditionen. In seinen letzten Erzählungen befasst sich Sherboto Tokombaev mit aktuellen Problemen seines Landes: mit der wachsenden Drogenabhängigkeit von Jugendlichen und den kriegerischen Auseinandersetzungen, die es im Süden des Landes im Gebiet von Osch gegeben hat.

Das folgende Interview führten Katharina Narbutovic und Sven Arnold.

Sie sind Lyriker und Prosaautor, haben eine Ausbildung als Journalist, arbeiten aber als Manager einer Firma, die Autobatterien herstellt. Gibt es denn genügend Publikationsmöglichkeiten in Kirgisistan?

Sherboto Tokombaev: Ich veröffentliche jetzt hauptsächlich in Zeitschriften. Es ist nämlich sehr teuer, hier etwas zu publizieren. Deshalb wird meine neue Erzählung in einer Zeitschrift abgedruckt. Sie heißt "Literaturnaja Azija”. Die Soros-Stiftung stellt verschiedenen Organisationen manchmal Mittel zur Verfügung, um Bücher oder Zeitschriften zu veröffentlichen.

– Heißt das, es ist für Sie unmöglich, einen eigenen Prosa- oder Lyrikband zu veröffentlichen, weil es zu teuer ist?

ST: Ja, im Grunde ist das so. Ein Autor muss alles selbst finanzieren.

– In Bischkek gibt es demnach keine Verlagshäuser, sondern nur Druckereien?

ST: Ja. Der Autor ist zugleich Lektor und Korrektor seiner Werke. Aber das hat vielleicht auch einen Vorteil. Zumindest ist man selbst verantwortlich für das, was man macht. Man kann nichts auf einen anderen abwälzen und dann später sagen: Ach, das hat er aber schlecht gemacht, das Komma da ist nicht an der richtigen Stelle gesetzt.

– Welche Ereignisse oder Organisationen sind es, die das literarische Leben in Kirgisistan prägen?

ST: Nun, es ist natürlich die Frage, ob es in Kirgisistan überhaupt ein literarisches Leben gibt. Zu sowjetischen Zeiten gab es den kirgisischen Schriftstellerverband, ein Propagandabüro. Mit der Unabhängigkeit hörte die staatliche Förderung auf, und der Schriftstellerverband verwandelte sich in eine Chimäre, die nur auf dem Papier existiert, die es faktisch aber nicht gibt. Weil viele Liegenschaften aus sowjetischen Zeiten übrig geblieben sind, wurde der Verband aufgeteilt. Jeder noch so kleine Autor konnte zum Vorsitzenden seines eigenen Verbands werden. Ein Verband hat dann ein Hotel übernommen, ein anderer etwas anderes, und so ist das alles verschwunden. Einer der drei bestehenden Schriftstellerverbände ist heute insofern mehr oder weniger funktionsfähig, als er Räumlichkeiten hat und dort ein Mensch sitzt. Und die Alten, die zu Sowjetzeiten jung waren, gehen manchmal dorthin, vielleicht um zu reden. Aber auch da finden sie nicht mehr so richtig ihren Platz. Sie schreiben nichts mehr, veröffentlichen nichts. Allein die Mitgliedschaft in diesem Verband bleibt ihnen, sie wird in der Gesellschaft noch ein wenig geschätzt. Darum werden junge Autoren in den Verband nicht aufgenommen.

– Das heißt, Sie sind kein Mitglied eines Verbands? Und wollen das wahrscheinlich auch gar nicht?

ST: Sie haben mich trotzdem aufgenommen, und außer mir noch zwei andere junge Autoren. Aber das war es dann auch.

– Ist das eine Ehre für Sie?

ST: Eher nicht. Im Frühling 2001 wurde in Kirgisistan zusammen mit Vertretern Usbekistans, Tadschikistans und Kasachstans die "Zentralasiatische Literarische Akademie” gegründet. Zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat man etwas Gemeinsames angefangen. Aber interessant ist, dass diese "Zentralasiatische Literarische Akademie” noch konservativer ist als der Schriftstellerverband. Ich weiß selbst nicht warum, es ist nur offensichtlich noch immer die gleiche sowjetische Generation.

– Wie sind dann junge Autoren organisiert? Informell?

ST: Für die jungen Autoren hat sich eine komische Situation ergeben. Sie können nur in Zeitschriften oder Zeitungen veröffentlichen. Diejenigen, die in den Schriftstellerverband eingetreten sind, haben untereinander keinen Kontakt, weil manche von ihnen den Alten entsprechen möchten. Und die, die zu den Informellen zählen, haben keinen Kontakt zu denen im Verband, weil es da gewisse Reibungspunkte gibt. Keine offene Konfrontation, einfach nur keinen Kontakt. Die Situation ist festgefahren. Es gibt keine Weiterentwicklung, in keine Richtung. Denn während die alten Schriftsteller von der Soros-Stiftung oder von kasachischer Seite finanziell unterstützt werden, sind die Jungen von allen vergessen worden. Und weil man zum Veröffentlichen Geld braucht und die jungen Autoren keines haben, sind sie weder zu hören noch zu sehen. Für einen jungen Autor ist es jetzt sehr schwer zu zeigen, dass es ihn gibt.

– Gibt es überhaupt informelle oder alternative Gruppierungen?

ST: Jeder informelle Kreis wäre besser als der Verband. Doch selbst das gibt es jetzt nicht.

– Und wo können Sie sich dann mit anderen Autoren austauschen?

ST: Ich habe ja gesagt, hier in Kirgisistan ist eine sehr schlechte Situation entstanden, insbesondere was die Kultur anbelangt. Ich treffe mich manchmal mit jungen Lyrikern aus Taschkent, und die sagen das gleiche: Sie zucken mit den Schultern und sagen, wir sind zwei oder drei, das ist auch schon alles, im ganzen riesigen Usbekistan. Sie können nur manchmal nach Bischkek kommen, wenn sie hier etwas zu erledigen haben. Und dann treffen wir uns, aber das ist sehr selten.

– Es heißt, dass die chinesische Kultur für Sie sehr wichtig ist, Sie sich aber auch für westliche Traditionen interessieren und letztendlich irgendwo in der Mitte von beidem stehen.

ST: Ja. Im Werk von Hermann Hesse gibt es zum Beispiel keinen Konflikt zwischen dem Osten und dem Westen. Das passt hervorragend zusammen. Wenn man sich die Landkarte ansieht und mit dem Finger in die Mitte zeigt, dann ist dort Kirgisistan, Bischkek: das unmittelbare Zentrum Asiens. Vielleicht ist das historisch so gewachsen, vielleicht hängt es auch mit der Seidenstraße zusammen. Jedenfalls haben sich hier sehr viele geistige Felder herausgebildet, asiatische wie westliche.

– Was interessiert Sie an der chinesischen Kultur? Sind es literarische Formen oder ist es eher die Philosophie, das Denken?

ST: Na ja, chinesische literarische Formen sind generell sehr schwer zu übertragen, allein schon aufgrund des Unterschieds von Schriftzeichen und Buchstaben. Es geht mehr um einen inneren, um einen philosophischen Einfluss. Um das Begreifen der Welt und um die Verwendung einiger literarischer Ansätze, die aus der klassischen fernöstlichen Lyrik entlehnt sind – wenn zum Beispiel ein Wort nicht nur Bedeutungsträger ist, sondern auch das ganze Assoziationsfeld fasst, mit dem ein Begriff verbunden ist.

– Und wie drückt sich das in der Bildsprache Ihrer Gedichte aus?

ST: Ich versuche, eine philosophische Haltung mit der heutigen Realität zu verbinden. Und dabei alles so einfach wie möglich auszudrücken, selbst wenn ich dabei manchmal die Schönheit zugunsten der Einfachheit opfere. Wenn Sie die japanische Vorstellung von "wabi” kennen, so braucht man diesem Denken zufolge nur das, was wirklich notwendig ist. Und was notwendig ist, das ist im Prinzip auch schön. Es ist der Versuch, mit einer möglichst einfachen Sprache etwas Tiefes auszudrücken. Und in der Prosa versuche ich dasselbe.

– Und die westlichen Traditionen?

ST: Es gibt zunächst einmal sehr viele äußere Aspekte des Westens, die das Leben hier im positiven Sinn beeinflussen. Und dann hat die westliche Literatur einen sehr großen Einfluss auf mich gehabt. Hermann Hesse habe ich schon genannt. Sehr wichtig waren auch Goethe, Shakespeare oder Nietzsche. Und dann solche Autoren wie Kurt Vonnegut, J. D. Salinger oder Albert Camus. Osten und Westen sind für mich jedenfalls so dicht miteinander verschmolzen, dass ich sie nicht mehr genau auseinander dividieren kann.

– Interessieren Sie literarische Verfahren der Moderne oder der Postmoderne?

ST: Ich lehne sie nicht ab, aber ich kann mich auch nicht zur Moderne oder zur Postmoderne zählen. Eigentlich würde ich mich gar keinem Rahmen zuordnen. Doch auch, wenn ich zur Postmoderne ein schwieriges Verhältnis habe, lehne ich nichts davon ab.

– Und die russische Literatur?

ST: Nun, ich war auf einer sowjetischen Schule, das heißt, ich kenne die russischen und die sow-jetischen Klassiker sehr gut. Doch Dostojewski gefällt mir beispielsweise unabhängig davon, ob ich ihn nun in der Schule gelesen habe oder nicht.

– Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es ja einen ganz neuen Zugang zu Informationen. Hat sich das ihrer Meinung nach auch auf das literarische Leben in Kirgisistan ausgewirkt?

ST: Das hat es. Auf einmal gab es sehr viel Literatur, die früher verboten war oder an die man nicht herankam. Sich damit auseinander zu setzen und zu beschäftigen war sehr wichtig. Viele Veränderungen kamen dann auch durch das Internet. Man kann sich immer mit jemandem austauschen. Und ich kann wichtige Artikel oder Bücher, die hier nicht aufzutreiben sind, im Internet finden. Das gibt eine gewisse Hoffnung. Auch wenn die Situation hier, wie gesagt, ziemlich festgefahren ist. Doch immerhin sind die Türen geöffnet.

– Kirgisistan ist ja ursprünglich ein Land von Nomaden. Deshalb hatte die orale Kultur wahrscheinlich eine besondere Bedeutung. Lässt sich näher bestimmen, welchen Einfluss die Einführung des Schrifttums auf die Tradition der mündlichen Dichtung gehabt hat?

ST: Nach dem Aufkommen der Schriftkultur – und das war bei uns erst Anfang des 20. Jahrhunderts – hat sich die orale Kultur im Prinzip nicht mehr weiterentwickelt. Jetzt herrscht das Schrifttum vor. Damals wurde auch das "Manas”-Epos schriftlich festgehalten, das große kirgisische Epos, das einen riesigen Umfang hat und das auswendig zu lernen fast unmöglich ist. Zu dieser Zeit gab es noch Manas-Sänger, die konnten das Epos praktisch von Anfang bis Ende vortragen, was Tage dauerte. Doch das war kein Auswendiglernen. Jeder Manas-Sänger hatte das Erlebnis, dass er das Epos plötzlich konnte, ohne es je auswendig gelernt zu haben. Dem einen ist Manas selbst erschienen, bei dem anderen geschah es im Traum. Jedenfalls wusste er mit einem Mal, dass er das Epos beherrscht und es ruhig vortragen kann. Dieses Phänomen ist bis heute nicht zu erklären, doch so geschah es. Heute gibt es solche Leute nicht mehr. Heute lernen Künstler einen bestimmten Teil des Epos auswendig, sie tragen ihn auch gut vor. Nur diesen inneren Aspekt, den gibt es dabei nicht. Bei ihnen spielt es sich nur auf der Ebene der Erinnerung ab.

– Wenn wir schon bei der Tradition sind: Wie wird denn Chingiz Aitmatov heute in Kirgisistan angesehen? Ist er für Sie als Autor wichtig?

ST: Was Aitmatov als Schriftsteller anbelangt, so schätze ich sein frühes Werk. Bücher wie "Djamilya” haben wirklich Niveau. Die späteren Sachen verdienen meiner Ansicht nach kein besonderes Interesse. Alles Wiederholungen und Kompilationen. Aber das ist meine persönliche Meinung. Auf der einen Seite kann ich es verstehen: Durch Aitmatov kennt die ganze Welt Kirgisistan, das ist alle Achtung wert. Doch in Kirgisistan wird sein Werk auch deshalb wenig gelesen, weil es mit der Realität, mit dem, was hier und heute in Kirgisistan und Zentralasien geschieht, überhaupt nichts zu tun hat. Wenn man nur einmal im Jahr für zwei Tage hierher kommt, dann kann man überhaupt nichts verstehen, geschweige denn darüber schreiben.

Aus dem Russischen übersetzt von Katharina Narbutovic


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An der Schwelle zu Asien
Sherboto Tokombaev
Nachts sieht das Wasser des Issyk-Kul-Sees wie Quecksilber aus: Es bewegt sich, es perlt hin und her, und auf den Falten seiner schwarzen Wellen schaukeln die scharfen Splitter eines in tausend Stücke zersprungenen Mondes.
Ich bin in Gesellschaft eines deutschen Schriftstellers, eines soliden, bedächtigen Menschen, bis ans Ufer heruntergestiegen. Er wollte wissen, wie das Wasser schmeckt.
"Es ist ja gar nicht salzig! Ganz anders, als man mir erzählt hat..."
Die Enttäuschung des betrogenen Schöpfers reizt die Möwen, die sich jetzt am Ufer zu schaffen machen, zum Lachen. Einige von ihnen kommen über den feuchten Sand ganz nah herangetrippelt, offensichtlich erwarten sie, daß man sie füttert. Ihre scharfen Augen glitzern wie Glasperlen.
"Ich hätte lieber nach Kreta fahren sollen, statt hier den dritten Tag in dieser Schwatzbude zu schmoren!... Ich bekomme schon Schuldgefühle: Helfen kann ich nicht, aber das alles anzuhören, fällt schwer..."
"Hier gibt es sogar Forellen", sage ich, um ihn zu trösten. Meine Verbindung mit dem Issyk-Kul ist durch nichts zu stören. Es ist, als würden wir einander telepathisch geheime Erkennungszeichen schicken: Ah, hallo! Atmest du noch? Was gibts Neues?
Als ich als kleiner Junge einmal in diesem Wasser, das mir seither vertraut ist, unterging, spürte ich das Brennen des Salzes. Vielleicht waren das meine Tränen? Ich schöpfe eine Handvoll. Ein Welle leckt mir mit ihrer treuen Zunge geschickt über die Finger. Sie schmeckt salzig! Das Wasser riecht nach Fisch, Algen und Mond. Und nach etwas schwer Definierbarem, Bitterem. Kokomeren, Wermutkraut! Mit diesen silbrigen Pflanzen ist in den letzten Jahren das ganze Ufer des salzhaltigen Bergsees zugewachsen...

Traumschwere bittere, süße Luft -
Wermutduft!
Langsam fließt, wie dein Haar sich entflicht
Wermutlicht!
Mädchenknie, hell schimmernde Haut -
Wermutkraut!
Fern tönt Gelächter, Sirenengesang -
Wermutklang!
Erinnerungen, die langsam verwehn -
Kokomeren!

Mich berauscht diese Gegend jedesmal. Auch die Luft ist leicht bitter und salzig, kompakt, man kann sie mit dem Löffel essen und davon satt werden. In den letzten Jahren war das für die Bauern am Ufer beinahe die einzige Nahrung...
Zwischen dem Deutschen und mir liegt eine riesige Kluft. Im Grunde leben wir in diesem Moment in zwei verschiedenen Welten. Obwohl wir nebeneinanderstehen in unseren Abendanzügen und polierten Schuhen. Es sind parallele Welten, sie können sich allenfalls in der Unendlichkeit treffen. Unsere Wege haben sich gekreuzt, aber unsere Welten überschneiden sich nicht. Die "Schwatzbude", das ist ein Kongress von Schriftstellern aus fünf zentralasiatischen Ländern. Den ärmsten Ländern in der GUS. Mein Land steht auf dem vorletzten Platz. Das letzte in der Reihe ist Tadschikistan. Zum ersten Mal seit zehn Jahren haben wir uns versammelt, um ein paar literatische Angelegenheiten zu besprechen. Und siehe da - erloschene Augen wurden auf einmal wieder wach und begannen zu leuchten, Hände zitterten und durch die Seelen derer, die erst von der Macht und dann, während der Jahre des Krieges und der Umwälzungen, auch von der Gesellschaft verstoßen wurden, ging ein Beben. Verwüstung herrscht in den Herzen, den Köpfen, den Häusern... Kein Wunder, daß einige Redner sich bis zur notwendigen Wiederbelebung einer "Kommunistischen Partei mit George Soros an der Spitze" verstiegen haben, oder zur "Schaffung einer mächtigen Zentralasiatischen Akademie für Literatur", die durch die Kraft des gemeinsamen Schriftstellerworts den geistigen Niedergang der Völker Asiens aufhalten sollte...
Wenn das nicht surreal war! Ich hörte zu und ergötzte mich an den überraschenden Bewegungen des vor mangelnder Aufmerksamkeit ausgetrockneten Denkens der Schriftsteller. Ihr lieben alten Herren! Braust nur auf, sprecht, laßt eure Glatzen funkeln, deklamiert Liebesgedichte und zitiert Khayam, vergeßt euer Rheuma und tanzt, macht komische Figuren beim bescheidenen Bankett, zum Gedröhn des fragwürdigen einheimischen Ensembles... Am Issyk-Kul ist alles erlaubt!
Ich persönlich hole mir vom Issyk-Kul wieder einmal eine Portion Liebe zur gesamten Menschheit ab. Irgendwann einmal hatte ich davon soviel, daß ich einen Teil dem See zur Aufbewahrung gegeben habe. Jedes Mal, wenn ich hierher komme, kann ich mich mit Sören Kierkegaard bescheiden als Liebling der Götter bezeichnen, "denn mir ist das seltene Glück zuteilgeworden, neu zu lieben, mit der ganzen Kraft der ersten Liebe!"
Gerade jetzt kommt mir das gelegen. Im vergangenen Herbst gelang es mit Mühe, die jüngsten Ereignisse von Batken aufzuklären und mehrere Hundert der schwer zu fassenden UIB-Kämpfer (meine persönliche Interpretation der Abkürzung lautet "Unterbelichtete-Idioten-Bewegung", den Islam und Usbekistan lasse ich weg) nach Tadschikistan abzudrängen - in den verwickelten Kampfhandlungen kamen einige Dutzend völlig unschuldiger Dorfjungen ums Leben. Gleich darauf tauchten wir in das undurchdringliche Dunkel einer Energiekrise ein. Den ganzen Winter heizte ich einen unersättlichen Kanonenofen mit der in Bretter zerlegten Scheune meines Großvaters, und das altersschwache Zäunchen des Gemüsegartens verbrannte ich gleich mit, wodurch sich den Liebesabenteuern meines Rüden Dschoba weitreichende Perspektiven eröffneten. Wie eine echte Nomadensippe versammelte sich meine ganz eingeräucherte kirgisisch-russische Familie abends um ein Feuer im Hof und wartete ungeduldig auf den über den Flammen halb gar gekochten Kaurdak-Eintopf. Der Rüde Dschoba, der in diesem Winter reichlich Haare lassen mußte, und der Kater Waska warteten taktvoll in einiger Entfernung, gähnten vor Gier und knurrten sich gutmütig an. Ein für unsere Winter selten kräftiger Frost kniff uns in den Rücken, während die dem sehnlich erwarteten Kessel zugewandten Wangen in Vorfreude glühten...
Mein Großvater, der kirgisische Volksschriftsteller Aaly Tokombaev, hat sich als Kind seinen Lebensunterhalt mit dem Singen von Fragmenten aus dem "Manas" verdient. Er hat versucht, auch mich in das große Epos einzuweihen, aber ich konnte mir Blok- und Lermontow-Gedichte leichter merken. Zur Unterhaltung von Gästen wurden bei uns die Beschbarmak-Schalen vom Tisch geräumt, dann stellte man mich in die Mitte und belustigte sich daran, wenn ich mit blitzenden Augen "ausdrucksvoll" rief: "Ja, Skythen! Asiaten! Das sind wir, mit gierigen und schrägen Blicken!"... Heute sind von den zahllosen Literaten, die uns damals besuchten, nur noch einige wenige am Leben. Die übrigen sind an Brot- und Ratlosigkeit zugrundegegangen.
Der unzufriedene Deutsche und ich kehrten in den Bankettsaal zurück. Er fühlte sich schwermütig und unschuldig-schuldig, ich floß über vom Sakrament der Liebe.
Ich sehe den Leuten gern beim Essen zu. Die Art zu essen sagt alles über den Charakter eines Menschen, seinen Lebensstandard, seinen derzeitigen Platz auf der sozialen Stufenleiter.

... Manchen bekümmert die Inflation,
Manch anderen sein mißratener Sohn,
Dieser gewöhnt sich das Rauchen ab,
Jener wünscht seinen Nachbarn ins Grab...

Aaly Tokombaev - sowohl seine Kinder als auch seine Enkel nannten ihn "Ata", "Vater" - erzählte uns einmal eine Geschichte aus seiner Kindheit. Nachdem er beim kirgisischen Aufstand 1916 seine Eltern verloren hatte (sie hatten sich vor den zaristischen Kosaken nach China zu retten versucht und waren auf der Flucht umgekommen), wurde er von Verwandten "durchgefüttert", zum Ausgleich machte er sich nützlich: er fütterte die Jagdvögel, weidete die Schafe... Einmal stürzten sich in den Bergen, wo er eine Schafherde hütete, zwei Menschenfresserinnen auf ihn, Höhlenbewohnerinnen. Bis heute sehe ich diese unglücklichen, vor Hunger verrückt gewordenen Frauen in Gedanken vor mir: die schwarzen, im Wind fliegenden Haarsträhnen voller Kletten und Schmutz, die blutunterlaufenen, hervorquellenden Augen, die nach der Beute ausgestreckten Hände mit den langen Krallen... Und das erschrockene kleine Kind, das aus Leibeskräften schreit und wegrennt, so schnell es kann, während es hinter sich schon ihren stinkenden Atem spürt... Wie oft haben Menschen Menschen gefressen auf unserer unglücklichen Erde, weil das immer die wehrloseste, leichteste und billigste Beute war!...
Als er vierzehn war, hörte Ata von Viehtreibern, daß in Taschkent eine Zentralasiatische Universität für mittellose Analphabeten gegründet worden war und machte sich vom Kemin aus zu Fuß auf den Weg. Es war auf dieser Reise, daß er sein Brot mit dem Singen des "Manas" verdiente, wobei er aus dem Stegreif vergessene Fragmente dazuerfand... Damals fing er auch an, seine ersten eigenen Gedichte zu schreiben.
Das Kemin ist meine angestammte Heimat - die Berge und Täler der Gegend um den Issyk-Kul. Von Taschkent ist das sehr weit entfernt - mit dem Auto sind es mehrere Tagesreisen. Die Äpfel aus dem Kemin halten sich bis Mai. Die Gräser im Kemin sind im Juli meterhoch. Wermut, Knabenkraut, Eisenhut und Kornblumen, Mohn und Kamille... Schafhirten schleppen keine Kühlschränke mit sich herum. Das Pferdefleisch hängt in langen Streifen an einer Schnur, es wird getrocknet. Ein Beschbarmak aus Pferdedörrfleisch und ein duftender Kumys, auf dem das schwimmende Fett dunkel glitzert - das ist ein Festmahl für Götter. In der Jurte drängen sich die "Obersten", die stolzesten Gäste, die um den Ehrenplatz, den "Torgo" konkurrieren. Lautlos, wie Schatten huschen die jung verheirateten Frauen hin und her, die Kopftücher tief in die Stirn gezogen. Nur die in ihre Zöpfe eingeflochtenen Münzen klirren. Sie überstürzen sich fast beim Servieren des Kumys und der dampfenden Fleischschalen. Auch ich ziehe den Ak-Kalpak meines Vaters tief in die Stirn: Ich sitze bescheiden mit dem übrigen Jungvolk vor der Jurte, trinke Kumys, betrachte die niedrigen, großen Sterne und will vor allem eins nicht - erkannt werden.
Die Sache ist die, daß ich der Stammvater dieser Sippe bin, der "Tynybek" aus dem Kemin. Fünf Generationen liegt es zurück, daß ich meine jüngste Tochter, eine grünäugige Schönheit, mit einem dahergelaufenen armen Schlucker verheiratet habe, womit ich dem Ruf und den Genen unseres damals mächtigen Stammes kräftig geschadet habe. Sie hat ihn geliebt... Ich aber war der "unbezähmbare Sherboto", ein Despot und Tyrann mit sanftem Gemüt und eiserner Faust, der uneingeschränkte Herrscher über Großes und Kleines Kemin.

... Nomadenblut -
Blitzschnelles, bitteres Glück! -
Trägt mich hinüber in andere Welten,
In einen Sommer voll Farben zurück,
Voll Kinderwahrheit und spielender Helden.

Und plötzlich, als hätte ich
Nichts zu verlieren,
Vergeß ich mein Haus,
Meine Frau, mein Kind...
Verfluchtes Blut!
Macht mich schwach und gierig:
Nach Bergen, Steppen,
Freiheit und Wind...

Verfluchtes, unbezähmbares Blut!
Verzeih, mich hält es
An keinem Ort...
Verfluchtes, unbeirrbares Blut!
In mir steckt ein Tier,
Das wittert sofort
Jeden zahmen Geruch,
Jeden Bibeldunst,
Jedes Buddha- oder
Prophetenwort...

Nomadenblut pocht,
Ich bin kurz vorm Zerspringen -
So müde von all der
Heuchelei...
Mich täuschen?
Das wird dir leicht gelingen:
Sieh her,
Ich helfe dir selbst
Dabei...

Als Ata mir den Namen unseres Stammvaters gab, so wird erzählt, kamen scharenweise alte Weiblein aus dem Kemin zu uns nach Hause. Sie brachten handgemachte Geschenke: winzige Zobelkappen, goldbestickte, mit Hasenfell gefütterte Kittel, kleine Wolfspelze...
Eine jede wollte das runzlige Gesichtchen des Säuglings gegen ihre vom Alter ebenso runzlig gewordenen Lippen drücken, "das Händchen küssen". Am Ende landeten wir in der Kinderklinik für Infektionskrankheiten, worauf meine Mutter sich schützend vor das Kind von heute stellte und sich fortan energisch weigerte, in mir den auferstandenen Geist des unbezähmbaren Sherboto zu sehen. Wahrscheinlich ist es mein Schicksal, mein Leben lang zwei Seelen in mir zu tragen - eine geheime, brennende, an grenzenlose Macht gewohnte, und eine zweite, die sich von diesem wilden Bai in die Ecke gedrängt fühlt - die Seele des stillen Liebhabers der Gruppe "Aquarium", Chagalls und der Postmoderne...

... Unser Verstand ist
Verschwindend gering:
Wer bin ich - Chuang-tse?
Ein Schmetterling?

Das multinationale Kirgistan, auf dessen Boden sich die alten Routen der Großen Seidenstraße kreuzen, unter dessen Dach etwa hundert Stämme und Völker zusamenlebten, innerhalb dessen es tadschikische und usbekische Enklaven gab und Dörfer und Siedlungen von Kasachen, Deutschen, Ukrainern, Weißrussen, Griechen, Tschetschenen und Kurden - heute sind sie allesamt stark ausgedünnt -, dieses Kirgistan hat uns Mischlingen nicht wenig "Geschenke" gemacht.
Ich persönlich bekam meinen "Hammer-und-Sichel"-Paß gerade in dem Jahr, als Kirgistan unabhängig wurde. Stolzgeschwellt von der eigenen Wichtigkeit präsentierte ich den nagelneuen Paß feierlich meinem Vater. Er saß nachdenklich allein in der Küche und trank Wodka. Bei ihm kam das selten vor - er war die Seele jeder Gesellschaft und brachte es nicht einmal fertig, allein zu Mittag zu essen. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Rubrik "Volkszugehörigkeit" und sagte scharf: "Heutzutage muß man sich schämen, ein Kirgise zu sein. Gut, daß Ata diese Schande nicht mehr erlebt hat!"
Das war auf dem Höhepunkt der sogenannten "Ereignisse von Osch". Die Behörden der "südlichen Hauptstadt" hatten ein und dasselbe Gebiet sowohl kirgisischen als auch usbekischen Bauern versprochen. Darauf begann ein blutiges Gemetzel zwischen den zwei Völkern, die jahrhundertelang Seite an Seite gelebt und sich längst miteinander vermischt hatten. Betrunkene Banden fielen in friedliche Häuser ein, vergewaltigten und ermordeten Kinder und Frauen und demütigten die Alten... In Bischkek - damals hieß es noch Frunse - kam es zu Studentenunruhen. Kolonnen von Südkirgisen, die an den Hochschulen der Hauptstadt studierten, liefen tagelang mit Transparenten und brennenden Fackeln durch die Straßen und riefen immer dasselbe: "Osch-ga! Osch-ga!..." ("Nach Osch! Nach Osch!..."). Alle Straßen nach Osch waren blockiert, desgleichen der Luftweg: die Armee versuchte, den Konflikt einzugrenzen. In der Hauptstadt waren unwahrscheinliche Gerüchte zu hören. Alle staatlichen Medien schwiegen beharrlich. Meine Familie wohnte damals im Universitätsviertel: genau unter unseren Fenstern sammelten sich die vor Angst um ihre Angehörigen halb wahnsinnigen Studenten aus dem Süden zu ihren Fackelzügen. An eben diesem Tag, so erfuhren wir später, hatte die rasende Menge in Osch unseren Verwandten Mamasaly Sabirow, den "Schneeleoparden", in Stücke gerissen. Er hatte versucht, den Elementen Einhalt zu gebieten...
Im vergangenen Jahr hatte ich am Vorabend der 3000-Jahr-Feiern in Osch Gelegenheit, dieses uralte Land voller Kontraste und Widersprüche zu besuchen. Die Ereignisse von Batken klangen noch nach, den knappen offiziellen Verlautbarungen zufolge war die "operative Lage im Zuständigkeitsgebiet der Südgruppe der Streitkräfte unverändert, mit einzelnen Zusammenstößen zwischen Armee und paramilitärischen Kampfgruppen". Doch das Oscher Kreiskrankenhaus war schon fast leer - die Verwundeten waren eilig in die Spitäler von Bischkek verlegt worden. Das alte Osch erwartete hohen Besuch, es putzte sich heraus. Gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft lief ich los, um die heiligen Stätten zu besuchen - den im Westen der Stadt gelegenen Kultberg Tacht-i-Sulaiman, das heißt "Salomons Thron", wo jahrhundertelang die Gläubigen aus ganz Mittelasien zusammenströmten.
Auf dem Gipfel des Bergs funkelt ein großer, spiegelglatter Stein in der Sonne. "Schau in diesen Spiegel, und du siehst die Vergangenheit", schrieb einst Julius Fu_ík.
Für die Kirgisen ist der Salomon-Berg auch heute noch ein Bild der Welt, ein Modell des Universums, in dem alle grundlegenden Elemente und Parameter des kosmischen Bauplans sich widerspiegeln. Wie den Berg Meru - den im Zentrum der Erde unter dem Polarstern gelegenen, vom Weltozean umgebenen mythischen Berg der alten Inder, auf dem der Legende nach die Götter Brahma, der Schöpfer, Shiva, der Zerstörer und Vishnu, der Allumfassende leben - hat der Allmächtige auch den Sulaiman-Too mit drei Gipfeln ausgestattet. Wenn man den Fahnenmast auf einem dieser Gipfel erreichen will, macht man sich am einfachsten von der Ostseite des Bergs aus auf den Weg.
Eine Asphaltpiste zieht sich zickzackförmig in die Höhe und verschwindet im üppigen Grün von Mandel- und Pistazienbäumen. Nach einigen Minuten gelange ich zum Eingang einer Höhle. Allah sei Dank, noch ist es keinem der in Osch mittlerweile überreichlich vorhandenen Geschäftsleute gelungen, den heiligen Thron mit einem vulgären Firmenlogo zu verunstalten. Im Herzen des Bergs liegt ein Museum. Das kühle Gewölbe der Höhle birgt eine der erstaunlichsten Ausstellungen der Welt: Geschirr, Haushaltsgeräte und Gebrauchsgegenstände der Siedler, die im Altertum in der Umgebung des kultischen Felsbrockens lebten. Auch heute werden die Ausgrabungen um den Sulaiman-Berg herum weitergeführt, wodurch die Exponate aus späteren Epochen nach und nach verdrängt werden.
Ich will nur einige der historischen Denkmäler am Sulaiman-Too nennen: Ak-Buura, eine große Stadt im Südosten von Osch. Sie wird auf die letzten Jahrhunderte v.u.Z. bis zum 8. Jahrhundert u.Z. datiert. Die Stadt ist von einer mächtigen Festungsmauer mit Wehrtürmen umgeben. Der Gesamtheit der Funde und der Form der Ziegel nach zu schließen steht der Bau der Festung möglicherweise in Zusammenhang mit der arabischen Invasion; vermutlich stammt sie aus dem 12. Jahrhundert u.Z.
Ein mittelalterliches Badehaus aus dem 11.-12. Jahrhundert in einem Händler- und Handwerkervorort von Osch. Beheizt wurde es mit Heißluft, die durch Kanäle im Fußboden geleitet wurde (wahrscheinlich verschlug es auf die Große Seidenstraße gelegentlich auch kräftige finnische Saunaliebhaber!).
Die Petroglyphen (Felsbilder), die es auf dem Berg im Überfluß gibt. Die eindrucksvollsten Szenen sind am Osthang zu finden. Die Bilder haben ganz unterschiedliche Motive: Drachen mit aufgerissenen Mäulern, Quadrate, Darstellungen von Sonne, Mond und Sternen...
Die Rawat-Abdullachim-Moschee, ein Architekturdenkmal aus dem 16.-17. Jahrhundert, von dem nur das mittlere Gebäude erhalten ist.
Das Mausoleum von Asaf-ibn-Burchija am Südosthang des Berges. Manche Forscher datieren es auf das sechzehnte, andere auf das frühe achtzehnte Jahrhundert...
Der "unbezähmbare Sherboto" in mir ist beim Betrachten dieser Zeugnisse der Jahrhunderte still geworden. Ich verstehe jetzt, warum die Südkirgisen uns im Norden "Steinkirgisen" nennen... Alles, was wir vorzuweisen haben, sind steinerne Balbals, diese seltsamen, mitten in der Steppe aufragenden Steinskulpturen, und die hochmütigen Spuren, die der blutige Tschingis-Chan und der unbesiegbare Alexander der Große - der wiederum eine Südkirgisin zur Frau genommen hat - in unserem Land hinterlassen haben...
Der Maler Ilja Glasunow, den seinen Studien weit in die Vergangenheit geführt haben, behauptet, auf dem Grund des Issyk-Kul-Sees ruhe das legendäre Symbol des vorchristlichen Russischen Staats - die Stadt Kitesch. Als Kinder fanden wir nach einem Sturm oft Tonscherben am Ufer, altes Geschirr und Dachziegel... Die alten Nordkirgisen wohnten in Filzjurten. Ihr Geschirr war aus Leder: der Tschanatsch, der Burdjuk-Weinschlauch... Der See bleibt stumm, er behält seine Geheimnisse für sich; die Indizien, die von einer anderen als der nomadischen Kultur zeugen, wiegt er in seiner Tiefe. Er hat viel Zeit, er hat vor uns schon existiert und wird auch nach uns bleiben.
Unbemerkt habe ich das Bankett verlassen und bin an den See zurückgekehrt. Ich habe ihm sehr viel zu erzählen: Schließlich haben wir uns seit fast einem halben Jahr nicht gesehen. In dieser Zeit sind zwei meiner früheren Schulkameraden an einer Überdosis gestorben. Einen dritten konnte man gerade noch wieder herauszerren aus diesem Loch... Und noch etwas - ich habe Kokomeren getroffen, meine erste Liebe aus der Schulzeit. Heute ist sie eine "Drogenprostituierte"...

... Denk zurück an die erste Liebe
Oder triff deinen Jugendschwarm,

Hör im Traum, wie sie nach dir rufen,
Leise rufen die Berge des Glücks...

Dieser Traum macht dich leicht und glücklich,
Dabei ist es ein trauriger Traum.

Ewig wirbeln und drehn sich die Winde
Nichts entgeht der Erinnerung...

Leise rauschend schlagen die Wellen gegen das Ufer, immer wieder und wieder, wie die Jahre unseres Leben: Sie entfernen sich und bleiben doch gegenwärtig. Alles fließt, aber nichts ändert sich. Die Schriftsteller, die zum ersten Mal seit so vielen Jahren wieder zusammengekommen sind, ahnen womöglich nicht einmal, daß der Hauptmoderator ihrer Konferenz der Issyk-Kul ist. Eine schweigsame, bewegte Quelle von Poesie, Philosophie, Lebenswahrheit. Alles umfassend wie das Gedächtnis, voller Geheimnisse, voll lebendiger Wesen mit ihren Hoffnungen und Erwartungen, voll unsterblich geliebter Ertrunkener... Ein leichter Nebelschleier steigt lautlos auf über der Silberspur des Mondlichts auf dem Wasser - sie ähnelt dem flackernden Licht einer Kerze, in der das ganze ewige Leben sich konzentriert...

In des Lebens kühler Leere
Brennt nur eine Flamme: Leid -
Blauer Rauch zieht fein hinüber,
Strömt in die Gedächtnismeere...

13. März 2001
Issyk-Kul

(Aus dem Russischen übersetzt von Olga Radetzkaja)