Ricardo Muniz Fernandes ist Soziologe. In den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts war er in der Werbebranche tätig. 1984 wechselte er in den Bereich der kulturellen Aktion, wo er begann, im urbanen Kontext São Paulos Situationen zu schaffen, die zu einer erweiterten Wahrnehmung des städtischen Chaos und der Verschiedenartigkeit der Menschen jenseits von Massenerfahrungen führen. 1990 wurde er von der SESC São Paulo unter Vertrag genommen. Die SESC ist eine Kulturinstitution auf kommunaler Ebene mit 28 Zentren im gesamten Bundesstaat. Muniz Fernandes koordinierte sechs Jahre lang die Programme verschiedener Kulturzentren und wurde nach dieser Zeit einer der Kuratoren für Sonderprojekte des SESC, wobei er sich mit vielen Projekten hervortat: Temporada de Outono (1996) (Herbstsaison) hier wurde ein öffentlicher Park am Stadtrand von São Paulo drei Monate lang bespielt. Während dieser Zeit verwandelte sich der öffentliche Raum durch Bühnenbild und Architektur fortwährend in ein Indio-Dorf, eine Opernbühne, eine Rockshow, das No-Theater, einen nordostbrasilianischen Markt usw. Ziel war es, das dortige Publikum, das sonst keinen Zugang zu solchen kulturellen Ereignissen hat, mit diesen bekannt zu machen und ihnen neue Erfahrungen zu vermitteln und zwar nicht nur als passive Zuschauer, sondern als Mitgestalter der Ereignisse. Gleichzeitig wurde am anderen Ende der Stadt, in einem Viertel, das als das Kulturviertel schlechthin gilt, eine verlassene Tankstelle zum kulturellen Schauplatz: Mainstream- und Subkultur trafen aufeinander, frei von Bewertung und Diskriminierung. Transvestiten trafen mit den Diven des klassischen Gesangs zusammen, unbekannte Künstler im Spiel mit Kazuo Ohno und neuen Performances von Lygia Clark, Indios und Drags. Von 1996 bis 1999 konzipierte und realisierte er unterschiedliche Wanderprojekte in verschiedenen Städten im Landesinnern, immer mit dem Wunsch, Erfahrungen jenseits der Massenmedien zu vermitteln. Folgende Projekte sind hier erwähnenswert: Lorca na Rua (1998) (Lorca auf der Straße) basierend auf Federico Garcia Lorcas Idee der kulturellen Durchdringung, der das Werk von Miguel de Cervantes und Calderón de La Barca in kleine Dörfer und Marktflecken des ländlichen Spaniens der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts brachte; für dieses Theaterereignis reiste Muniz Fernandes mit drei beladenen Lastwagen und mit Tanz- und Theaterspektakeln, Shows, Installationen und Videoperformances im Gepäck durch 48 Städte im Inneren São Paulos mit dem Ziel, Theater an Orte zu bringen, an denen nie zuvor eine Theatergruppe gewesen war, um dort die Stücke des spanischen Poeten und Dramaturgen zu inszenieren. Mundão (1998) (Die große Welt) eine große Wagenhalle und Stadtomnibus-Werkstatt im Süden São Paulos, die zehn Tage lang mit Interventionen zum Konzept der Schnelligkeit und des Verschwindens aus dem Werk Jean Baudrillards bespielt wurde. Mehr als 500 Aktivitäten wurden in diesen Tagen zwischen Mittag und Mitternacht dargeboten. Alles wurde bruchstückhaft und nur ein einziges Mal aufgeführt: Die ganze Welt durch ein Omnibusfenster betrachtet, kritisch und realistisch. Die Wagenhalle liegt in einer der ärmsten und bevölkerungsreichsten Gegenden der Stadt, so dass man die Zahl des Publikums auf ca. 60.000 schätzen konnte. Coração dos Outros (Das Herz der Anderen) - Saravá Mário de Andrade (1999) - ist eine Wanderinternvention über das Werk Macunaíma von Mário de Andrade, das 32 Theater-, Tanz- und Musikgruppen sowie Cineasten und Bildende Künstler zusammenführte. Das Ereignis fand in 64 kleineren Städten im Inneren des Staates von São Paulo statt (zwischen 10.000 und 20.000 Einwohnern), wo die beteiligten Künstler die verlassenen Bahnhöfe der Stadt zwei Tage lang mit ihren Interventionen einnahmen. Im Jahr 2000 löste sich Muniz Fernandes vom SESC und arbeitet seitdem als freier Produzent und Kurator. In jener Zeit sind neben anderen Produktionen aus seiner Autorenschaft hervorzuheben: Danças na 24 (2001) (Tänze auf der 24sten) die Bespielung eines großen stillgelegten Kaufhauses im Stadtzentrum, hierbei verband er den Text Corpo sem órgãos (Körper ohne Organe) von Gilles Delleuze mit persönlichen Erinnerungen an ein Tanzspektakel, das in den 50er Jahren in derselben Region aufgeführt wurde. Eine Woche lang tanzten Schauspieler und Laien gemeinsam zu den Klängen der DJs und den Texten von Delleuze, die wie Liebeserklärungen in Umgangssprache gemurmelt wurden. Zurzeit arbeitet Muniz Fernandes im Kuratorium des Internationalen Theaterfestivals von São José do Rio Preto (einer Stadt im Inneren des Staates) und des Projeto Nordestes (Nordost-Projekt). Mit seiner Arbeit für das Festival will er aus einer Zuckerrohrplantage (Hauptprodukt der Region) ein Zentrum für Performances machen, die auf dem umfangreichen Werk von Antonin Artaud und seinem Konzept von Theatralität basieren. Das Projeto Nordestes, umgesetzt von der Stiftung Joaquim Nabuco aus Recife, diskutiert die historischen Formen der Besetzung, Konstruktion und Demontage brasilianischer Identitäten. In seinem Projektkonzept löst sich die Geschichte in Prozesse auf, in denen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen, und verweist somit auf die Konflikte zwischen traditioneller und zeitgenössischer Kultur. Dieses Projekt findet 10 Tage lang an zwei unterschiedlichen Orten im Land statt: in einem Kulturzentrum der Stadt São Paulo und an einem leeren Ort im brasilianischen Sertão, in der Gegend des Cariri. Thema ist die Auseinandersetzung mit der in der brasilianischen Kulturproduktion immer noch gegenwärtigen und verwurzelten Idee von Zentrum und Peripherie.weiteres unter: www.sescsp.org.br/sesc/hotsites/mundao www.sescsp.org.br/sesc/hotsites/lorca/home www.sescsp.org.br/sesc/hotsites/macunaima www.sescsp.org.br/sesc/hotsites/danca2001
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