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Bernard Khoury, Architekt
Alltag, Ambivalenz, Bürgerkrieg, Dekonstruktion, Geschichte, Identität, Moderne, Urbanität, Wahrnehmung
Bernard Khoury, Architekt

Beirut ist die toleranteste, die offenste Metropole der Arabischen Welt, eine Stadt mit kosmopolitischer Tradition, eine Stadt der Unterhaltungsindustrie, Tor zum Westen und Umschlagplatz von Großkapital. „Das Nachkriegs-Beirut ist eine hyperzeitgenössische Version der kapitalistischen Stadt im Zustand der Anarchie, ein faszinierendes und zugleich erschreckendes Produkt westlicher Einflüsse, das außer Kontrolle geraten ist," resümiert Bernard Khoury.
Beirut, das Paris des Ostens, wurde im Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 in einem zermürbenden Straßen-, Häuser- und Hotelkampf zerstört. Was mit einem Konflikt zwischen Christlichen Milizen und Palästinensern begonnen hatte, führte später zu ständig wechselnden Koalitionen und erbitterten Kämpfen und Frontlinien zwischen Christen und Christen, Schiiten und Palästinerns, Drusen und Maroniten, Palästinensern und Palästiner, Schiiten und Drüsen sowie Schiiten und Schiiten. Der kosmopolitische Kern der libanesischen, levantinischen Gesellschaft, die ethnische und religiöse Vielfalt, wurde in der Ideologisierung von Identitäten zerstört. Das Stadtzentrum als Ort der kollektiven Geschichte, die Theater, Kinos, Restaurants und Cafés als öffentliche Räume des Zusammenlebens fielen dem Separatismus des Bürgerkriegs zum Opfer. Das historische Stadtzentrum, die Suks, die Al Hamra Straße, sie haben die Bedeutung für diese kosmopolitische Erinnerung verloren. Die urbanen Räume sind planiert, stehen leer als Ruinen oder werden in einem orientalisierenden Sinne von der Staatlichen Wiederaufbaugesellschaft Solidère rekonstruiert. Für die intellektuelle Szene Beiruts hat ein zweiter Krieg, ein „Krieg gegen die Erinnerung", wie der Schriftsteller und Journalist Elias Khoury sagt, begonnen. Bis heute werden Postkarten verkauft, die aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg stammen. Ein touristisches Bild beherrscht den offiziellen Wiederaufbau, mit dem die einschneidenden traumatischen Erfahrungen aller Bewohner Beiruts aus dem Bürgerkrieg, vor allem aber die Erfahrungen aus der klassischen Blütezeit vor dem Krieg, aus dem öffentlichen Diskurs gelöscht werden. Während von den Künstlern und Intellektuellen die zeitgenössische Restaurierung von historischen Bauten gefordert wird, wird tatsächlich die architektonische Erinnerung spekulativen Hochhausprojekten geopfert oder in einem levanthinischen Disneyland mit Fußgängerzonen und unbezahlbaren Gewerberäumen verklärt. Zielsetzung: der arabische Tourismus. Die Strategie, unverarbeitete Geschichte zu überspringen, ist die Dynamik staatlicher Politik. Dagegen stehen vereinzelte Kunstprojekte wie das Festival Ayloul, die Initiative Ashkal Alwan und nicht zuletzt Bernard Khoury, der als einziger im kapitalistisch geprägten Mainstream den Finger in die historischen Wunden der Stadt legt. In einer Metropole, in der auch nicht der geringste Raum für dringend erforderliche historische Aufarbeitung existiert, in diesem Machtbetrieb ist es Bernard Khoury gelungen, die vorherrschende Entwicklung noch zu bechleunigen und sie auf einen zynischen Break Even hin voranzutreiben. Insofern sind die realisierten Bauprojekte von Khoury in ihrem Stellenwert für die arabische Welt einzigartig. Alle Auftragsprojekte wurden im Bereich der Unterhaltungsindustrie ermöglicht, einem Kernsektor der libanesischen Wirtschaft. Doch gleichzeitig reflektieren sie die urbanistische Wirklichkeit, historisch und aktuell, werden zu Erinnerungsbauten einer verdrängten Geschichte. Und zwar nicht einer vergangenen Zeit, sondern einer gelebten Zeit, einer Zeit, die sich in die Körper und die Erinnerung eines jeden Individuums eingeschrieben hat.
Den Maßstab für diese urbanistische Herausforderung setzte zweifellos das BO 18, Nachtclub im Hafenviertel Karantina, gelegen unmittelbar an der nach Norden führenden Ausfallstraße Beiruts. Das für 10 Jahre gepachtete Gelände befindet sich an der Stelle eines Palästinenserlagers, das am 6. Dezember 1975 zum Ort eines Massakers an Hafenarbeitern durch christliche Milizen wurde. Später wurde das Lager einplaniert und seitdem nicht mehr bebaut. Auf der anderen Seite der Schnellstraße ist ein dichtbesiedeltes Armenviertel, das in krassem Gegensatz zu dem toten Gelände stand. Während für den Auftraggeber ein Nachtclub auf diesem leerstehenden Gelände selbstverständlich sichtbar sein sollte für die vorbeirasenden Autofahrer, konzipierte Bernard Khoury eine Architektur, die im Boden versenkt ist. Ähnlich einem phönizischem Felsengrab führt eine Treppe in den Club auf das historische Bodenniveau, das gleichsam durch die Schichten der Planierungen auf die historische Schicht vor dem Lager zurückführt. Der im Boden versenkte Clubraum ist ausgestattet mit kleinen, die Form von Sarkophagen kopierenden Tischen, jeweils eingerahmt von Sofas, die einfach zuzuklappen sind, um als exponierte Tanzflächen zu dienen. Mit der Dachkonstruktion des unterirdischen Raumes hat Bernard Khoury schließlich sein Markenzeichen, mobile Kontruktionen, eingeführt. Das Dach kann vollständig zu den Seiten hin automatisch geöffnet werden, so dass die Party unter freiem Sternenhimmel stattfindet. Über der Bar aber wird ein gigantischer Spiegel gelüftet, in dessen Reflektionen die nahen Stadtviertel Beiruts, der urbane Raum mit dem Geschehen im Club zusammentrifft. Die Zufahrt zum Club ist ebenso inszeniert wie der Club selbst. In einer kreisrunden Zufahrt mit Parknischen erhält der im Zentrum liegende Club den Charakter eines Mahnmals. Entertainement und Massaker, exzessives Leben und Erinnerung, Selbstinszenierung und öffentlicher Raum: das BO 18 ist für Jahre nicht nur zum heißesten Ort Beiruts geworden, sondern zugleich auch der radikalste Versuch, den Bürgerkrieg mit in die Gegenwart zu nehmen, als Erinnerung, als Bestandteil des Lebens der meisten jungen Besucher.
Mit dem BO 18 hat Bernard Khoury das Lebensgefühl Beiruts zugespitzt. Das geht bis in die Details. So wird dem Auto, dem Statussymbol in Beirut überhaupt, eine exponierte Rolle zugewiesen. Die vorfahrenden Autos werden vom Club-Service am Eingang übernommen und nach Größe näher oder weiter vom Eingang entfernt geparkt. Die Treppe hinunter führt auf eine Schießscharte, durch die der Ankömmling beobachtet werden kann. Über Jahrzehnte haben die Snipers, die Heckenschützen, den alltäglichen Wahnsinn in Beirut bestimmt. Die Barhocker auf der gegenüberliegenden Seite geben dem Besucher hingegen Geborgenheit. Bis über Kopfhöhe umhüllen die Holzlehnen den Sitzenden, der sich mit einer Drehung allerdings zum gesamten Saal hin exponiert. Auf den Sarkophag-Tischen stehen gerahmte Portraits berühmter Pop-Sänger, die an die Totenbilder in den historischen Gräbern erinnern. Diese Spannung, in der sich der Besucher bewegt, zwischen Mord, Tod und Unterhaltung, zwischen verdrängter Geschichte und Lebensintensität, diese Spannung bringt die Situation Beiruts auf einen Punkt. Hier geht es nicht um politische Korrektheit, auch nicht um didaktische Eindeutigkeit. Bernard Khoury wertet nicht, er bringt keine moralischen Katetgorien ein, er führt allein die Koordinaten des aktuellen Lebens in Beirut und der aktuellen Diskussionen auf einen Punkt zu. Hier implodieren oder explodieren diese Inhaltslinien, die unauflöslich miteinander verknüpft sind. Insofern ist das BO 18 das vielleicht radikalste Dokument des aktuellen Beirut.
Das verhält sich ähnlich mit dem Restaurant Central, das in einem ehemaligen Wohnviertel der 20er Jahre errichtet wurde. Durch die Nähe zur Demarkationslinie zwischen West- und Ost-Beirut wurden die Häuser verlassen und verfielen. Eines dieser Wohnhäuser ist nun zu einem Restaurant umgebaut worden, ähnlich wie andere historische Wohnbauten der Stadt, die die Intimität der kleinteiligen Räume aufgreifen.
Während die Häuser im Umfeld in ihrem originalen Format restauriert wurden und die osmanische oder koloniale Architektursprache aufgriffen, setzte Bernard Khoury auf einen Entwur, in dem sowohl die ursprüngliche Substanz respektiert als auch die Geschichte des Bürgerkriegs sichtbar wurde. Dabei ist die zentrale Idee so einfach wie schlüssig. Es handelt sich um das konsequente Zuende-Denken der Sicherungskonstruktionen von baufälligen Gebäuden. Das ermöglichte Bernard Khoury, den Zustand des Verfalls einzufrieren, innerhalb einer Eisenkonstruktion mit transparentem Gitterwerk, die den äußeren Baukörper vollständig erhält, zugleich aber die gesamte Innenraumarchitektur entkernen ließ. Entstanden ist eine Hülle als Trägerkonstruktion und ein gigantisch großer Innenraum, der der intimen Kleinteiligkeit der öffentlichen Räume den großen kommunikativen, den kollektiven Raumkörper entgegenstellt. Betont wird dieser Eindruck durch die Setzung nur eines großen Tisches, um den heraum alle Gäste platziert sind, offen für den Blick des Gegenüber. Der Service wird vom Zentrum des Tisches geregelt. Vom Restaurant führt ein gläserner Aufzug in die Bar, die in einer 16 Meter langen Glas-Eisen-Röhre an die Stelle des Daches gesetzt ist. Die im BO 18 begonnene Inszenierung des Besuchers ist im Central weitergeführt. Das komplexe Verhältnis zum öffentlichen Raum in der arabischen Gesellschaft wird in den Entwürfen von Khoury zugespitzt. Die Möglichkeit zu exponieren, sich selbst oder den anderen, die körperliche Beeinflussung, als Behinderung oder Förderung, das Spiel mit den versteckten Codes, das ist das Thema dieser Architekturen. Insofern ist das Central nicht nur ein deutliches Bekenntnis für einen zeitgenössischen Umgang mit historischer Substanz, sondern auch eine Reflexion auf die eigene Gesellschaft. Wie im BO 18 ist die Glasröhre der Bar durch eine hydrauliche Dachkonstruktion zu öffnen: städtischer Raum und Bar greifen ineinander.
Genau in dieser Tradition steht die dritte realisierte Archtiktur von Bernard Khoury in Beirut, eine Sushi-Bar, wiederum an der ehemaligen Demakartionslinie gelegen. Der zentrale Raum ist ein Aufzug, mit dem die Besucher das erneut unterirdische Restaurant erreichen. Über Glasdächer kann jeder Vorbeigehende die Gäste von oben beobachten. Der Fahrstuhl inszeniert, mehr noch als im Central, den Auftritt des Gastes. Das Restaurant wird die wirkliche Bühne der Beiruter Gesellschaft.

Bernard Khoury definiert sich, anders als die modernen arabischen Architekten, als radikaler Erneuerer, der sich nicht an die klassischen arabischen Formensprachen hält.
Die historischen Traditionen sind für ihn nicht Vorgaben, sondern Bezugspunkte einer anarchistischen Aufklärung. Sie sind Ausdruck der Lebenssituation in Beirut und transformieren kompromisslos die Vorgaben der Auftraggeber in künstlerische Statements. Der wirtschaftliche Erfolg der Projekte spricht dafür, wie die ästhetischen Ergebnisse. Bernard Khoury hat eine Architecture Parlante geschaffen, die den Besucher immer in einem ambivalenten Erfahrungshorizont beläßt. Indem Khoury Geschichte zitiert, wörtlich und in einem übertragenen Sinne, schafft er ephemere Memorialbauten, Orte der Unterhaltung, an denen das Trauma transformiert werden kann. Die architektonische Sprache definiert sich nicht formal, sondern strukturell, insbesondere in dem vollkommen innovativen, ja zukunftsweisenden Umgang mit historischen Schichten von konkretem Baubestand und städtebaulicher Verortung. Eine Art politisierter Archäologie der jüngsten Beiruter Vergangenheit.

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Beirut
Der Filmemacher Ghassan Salhab, Regisseur von Beirut Phantome und Terra Incognita, über "seine" Stadt
Alltag, Bürgerkrieg, Erinnerung, Grenze, Katastrophe, Leere, Subkultur, Urbanität, Wahrnehmung
Beirut ist eine Stadt, die siebenmal zerstört und wieder aufgebaut wurde, die immer nahe am Abgrund existierte. Nach meinem Film „Beyrouth Fantôme” von 1997 wurde mir klar, dass ich wieder zurückkommen und hier Filme machen muss. Ich liebe es, durch die Stadt zu laufen. Beirut ist eine Stadt der extremen Unterschiede, die keine eindeutigen Klassifikationen zulässt. Und genau hierin liegt die Gefahr der Planungen für den Wiederaufbau. Man will kaschieren und vertuschen und aseptische Quartiere errichten, die es vorher nicht gab. Die neue Innenstadt ist so ein Beispiel: eine Kulisse für Hollywoodfilme. Sauber, elegant und tot. Ich warte nur darauf, dass Steven Spielberg vorbeischaut und hier seinen nächsten Blockbuster dreht!
Libanon war und ist immer noch ein unerforschtes Land, eine „Terra Incognita”, die uns dennoch vertraut ist. Wer sind wir, woher kommen wir und wohin gehen wir? Fragen, die ich auch meinen Protagonisten in meinem neuen Film stelle. Dabei bezieht sich die Frage weniger auf eine Nation als vielmehr auf das Individuum. Ich frage heute nicht mehr, wer ich bin oder was es für mich bedeutet, Libanese zu sein. Ich stelle mich als afrikanisch-libanesischer Pariser vor. Identität im Sinne von Herkunft war ein Thema, als ich mit meiner Familie aus dem Senegal nach Beirut zurückkehrte. Damals, vor dem Bürgerkrieg, wurde die Welt in Schwarz und Weiß unterteilt. Trotz patriotisch
arabischer Erziehung fühlte ich mich als Afrikaner, auch wenn mich meine weiße Haut daran erin-nerte, dass ich keiner war. Erst der Bürgerkrieg veränderte diese Sehnsucht, irgendwo dazugehören zu wollen. Durch ihn akzeptierte ich die Komplexität des Lebens und verabschiedete mich von der Suche nach eindeutigen Antworten auf meine Fragen.

(Aus einem Interview mit Alia Rayyan)