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Rituale und Religion
Texte zur Reihe Sacred Music
Zwischen Zeremonie und Routine –
Das Ritual in der (Post-)Moderne

von Martin Zenck
13.11.2003

„… das Ritual … hatte sie zusammengeführt …“
Cees Nooteboom

Heute spricht man recht ungeschminkt über alltägliche Rituale, die der Lebensbewältigung dienen sollen (3 x Zähneputzen; 4 x Herd-Nachsehen, ob er noch an ist; 2 Bachsche Fugen spielen). Häufig bewirken sie aber das Gegenteil: Sie führen zu automatisierten Abläufen und Handlungen, welche Situationen, die als schwierig zu meistern gelten, erstarren lassen – statt sie so zu fassen, dass gerade aus der Spannung von Bewältigung und Nicht-Bewältigung etwas Lebendiges entstehen könnte. Zugleich vermag aber aus mechanisierten und ritualisierten Gewohnheiten und Habitus-
Formen (Pierre Bourdieu) doch Lust zu entspringen. Jedenfalls sind in dieser doppelten Funktion verschiedene Formen des Rituals in einem außerordentlichen Roman von Cees Nooteboom anzutreffen, der nicht zufällig den Titel „Rituale“ (Frankfurt/Main, 1985) trägt. Die in dem Buch beschriebenen, auch zwanghaften Zeremonien von sexuellen Abläufen dienen nicht nur deren Beherrschung, sondern vor allem der exzessiven Freisetzung von Lust, bis diese tödlich zu werden droht. Indem das Ritual die angstbesetzte, weil leere Zeit in ihrem Ablauf gliedert, nimmt es ihr durch diese angebliche Fülle die Selbstverlorenheit des Ich, schraubt aber den an sich offenen Verlauf der Zeit so fest, dass die Liebesbeziehung im Roman an den starren Zeremonien zu scheitern droht.

Die Thematik der Ritualität ist nicht nur durch die Begegnung der Kulturen, durch die Interkulturalität und die Ethnologie in unseren Blick geraten, sondern vor allem in der westlichen Zivilisation durch die Postmoderne. Während das Ritual in der Moderne noch als vorzivilisatorischer und exzessiver Akt eines unfreien, weil nicht aufgeklärten Menschen verstanden wurde, ist es mit den offenen Verhaltens- und Bewältigungsformen in der Postmoderne wieder aktuell geworden. Gegenbewegungen gegen die Moderne gab es immer wieder, wie den Primitivismus zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Orientierung an autochtonen Kulturen der Dritten Welt, aber es lässt sich durchaus behaupten, dass das Ritual, und zwar nicht nur das ästhetisch-künstlerische und politische, alle Lebensbereiche erfasst hat, sodass die alltäglichen, auch zwanghaften Habitus- und genormten Verhaltensweisen geradezu zur Signatur der Postmoderne geworden sind. Und dies auch im Sinne eines Spiels im Ritual, dessen ludisches Moment Octavio Paz in „Die Rückseite des Lachens“ (Milan, 1997) in den Mittelpunkt rückte. Auf diese Weise hat das Ritual nicht nur vom Leben Besitz ergriffen, das es organisierte und vom Leistungsdruck der Arbeit spielerisch entlastete, sondern auch von den Künsten, der Literatur und der Musik. Nicht die Thematisierung des Rituals entscheidet darüber, ob ein Roman, ein Bild oder eine Komposition oder Improvisation modern oder postmodern ist, sondern seine Handhabung.

Ein Film, der das ganze Panoptikum und Pandämonium der Rituale umfasst, ist Louis Malles „Miou en Mai“ (deutscher Titel: Eine Komödie im Mai). Hier findet sich alles um das Ritual einer aufgebahrten Toten versammelt, das entsprechende Verteilungs-, Besäufnis- und Begräbniszeremonien auslöst, diese gleichwohl sprengt, um schließlich noch das Anti-Ritual zu bändigen und zu fesseln durch ein neues Ritual. Dabei spielt die Musik eine entscheidende Rolle. Sie ist der Totentanz, das Ritual der Rituale, Ritual im Ritual, das es aufbricht und schließlich mit dem Tanz aller Tänze endet: mit dem Walzer, der Walzer-Folge auch von Richard Strauss „Rosenkavalier“ und der tödlich-orgiastischen, weil Schwindel erregenden Drehung von Maurice Ravels „La Valse“.

Die etymologische Verbindung von Ritual und Rhythmus ist nicht gesichert. Vorstellbar ist aber, dass die gesicherte Herleitung des Rhythmus aus dem Schema der sich regelmäßig wiederholenden Figur und Gestalt mit dem Ritual zu einem Bedeutungszusammenhang der periodischen Wiederkehr von rhythmisierten Körperbewegungen gerinnt, die eine vorsprachliche oder metasprachliche Form der Kommunikation darstellen. Sie wendet sich an eine „Gemeinschaft“, die sich anders als durch Sprache und Bilder verständigt. Gerade in der Verbindung von realer oder imaginärer Geste und Musik geht das musikalische Ritual häufig einen sakralen Zusammenhang ein. Auf ganz entgegengesetzte Weise geschieht dies in Karlheinz Stockhausens „Inori“ (1978) und in Pierre Boulez „rituel in memoriam Bruno Maderna“ (1974). Während „Inori“ die körperliche Einheit von Bewegung und musikalischer Geste beschwört, ist diese Einheit bei Boulez ganz in den rein musikalischen Prozess hineingenommen. Es sind periodische und a-periodische Verlaufsformen mit der Geste der Anrufung, der inneren Versammlung und des Sich-Lösens, die insgesamt ein Trauerzeremoniell auf Dauer stellen, um es zugleich mit jeder Aufführung und ihrem Ende der Vergänglichkeit alles Irdischen und auch des Freundes Bruno Maderna zu überantworten. Während bei Boulez diese Assoziationen rein aus dem Bewegungsduktus der Musik und der Aufführung hervorgehen, kann Stockhausens Komposition „Inori“ (Gebet) nur ihren Sinn im Zusammenhang einer Aufführung erfüllen, die schauspielerisch-gestische Darstellung und musikalischer Ausdruck der Körperbewegung zugleich ist. Hier geht die Musik in ihren doppelten Ursprung zurück: in die Stille und das Schweigen auf der einen Seite, in die Bewegung des Körpers auf der anderen, der mit seinen Gängen horizontal und seinen hochaufgerichteten Gesten vertikal den Raum ordnet und damit so die Zeit vermisst, wie dies die notierte Musik später durch das Metrum und den bezeichneten Rhythmus vermochte. In beiden Kulturen der rituellen und der notierten oder auch improvisierten Musik sind alle Anwesenden eingeschlossen, nicht zuletzt durch die taktile und akustische Übertragung, der gegenüber es sekundär ist, ob die Anwesenden am Spiel unmittelbar oder „nur“ hörend beteiligt sind.


Zur weiteren Lektüre empfohlen:
Octavio Paz: Artes rituales del Nuevo Continente, Milan 1997
Martin Zenck (Guest Editor): Music, the Arts and Ritual. The world of music 40/1, VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung, 1998 (1)
Christoph Wulf und Jörg Zirfas (Hg.): Rituelle Welten, Berlin 2003
Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.): Ritual und Grenze, Tübingen und Basel 2003