Die libanesische Autorin Najwa Barakat, die heute als Schriftstellerin und Journalistin in Paris lebt, hat bisher vier Romane auf Arabisch und einen Roman auf Französisch veröffentlicht. Der nachfolgende Text, in dem die Autorin über ihr Verhältnis zu ihren Romanfiguren schreibt, ist ein Auszug aus einer Rede zur eigenen Poetologie, die Najwa Barakat 2000 in Amman/Jordanien gehalten hat und die erstmals im Herbst 2000 in der in London erscheinenden arabischen Zeitung al-Quds veröffentlicht wurde.
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Jeden Tag aufs Neue überkommt mich die Ungewissheit darüber, was der Welt und mir wohl widerfahren würde, wenn ich nicht schriebe. Wahrscheinlich nichts. Und jeden Tag aufs Neue überrascht mich die Gewissheit, dass die Welt auch keinen Schaden nimmt, wenn ich es tue. Stets auf der Schwelle, in einer konfusen Zeit, auf der Grenzlinie. Das ist der Ort des Schreibens. Seine Zeit. Und weil der Roman die Kunst der Ungewissheit par excellence und die der Gewissheit par excellence ist, lebe ich in der ständigen Ungewissheit, ob ich auf dieser Welt nicht fehl am Platz bin und widersetze mich ihr. Gleichzeitig habe ich stets die Gewissheit, dass die fiktive Romangestalt die einzige Wirklichkeit ist, die mich aus dem Dunkel des langen Tunnels herauszuführen vermag. Wie ein Vulkan. Wie das erste Atom bricht die Gestalt hervor und kündigt die Explosion des Romans an, wie eine Atombombe. Im Roman erzähle ich, die Autorin, möglicherweise meine Geschichte. Das heißt, ich ende als eine Person, um als eine andere zu beginnen. Ich brauche diese Distanz. Wie könnte ich sonst meinen Mangel und Verlust erklären? Die Distanz zwischen meinem Leben und seinem Sinn kann jedoch nur bestehen, wenn ich mein Leben in der Realität aufhebe, es also in einen Bereich verlege, der es mir ermöglicht, darüber zu reflektieren. Ich schreibe mein Leben also, um darüber zu reflektieren, denn ich lasse nicht zu, es ohne Sinn zu verlieren. Mein einziger Trost ist, dass es einen Sinn hat. Ich schreibe mein Leben und schaffe ihm damit einen Sinn. Und im Roman erzähle ich, die Autorin, möglicherweise nicht meine Geschichte. Das heißt, ich erfinde Gestalten, die in keiner Verbindung zu mir stehen. Demnach existiert der Sinn außerhalb meiner selbst, in der Enge, die mich mit allen anderen gleichmacht. Ich will die Welt um mich herum dekonstruieren, um zum Symbol zu gelangen. Will das Symbol dekonstruieren, um den Sinn zu erhalten. So stecke ich in der Essenz der Gestalt. Einen Wert schaffe ich ihr durch einen Sinn, jenen Sinn, den ich nicht zu fassen bekomme. Die Beziehung des Autors zur Romangestalt besteht in der Ambivalenz. Die Gestalt ist sein Wunsch zur Fortpflanzung, sein Vehikel zur Unsterblichkeit. Der Autor erfindet eine beliebige Gestalt, setzt sie auf der Erde aus und spricht: Ich segne dich, also sei fruchtbar und mehre dich, bringe Völker und Nationen hervor. Sei wie das Salz dieser Erde. Mache mich zum Propheten, und ich sage: Wie könnte ich dich nicht lieben? Mache mich aber zum Teufel, und ich sage: Wie könnte ich dich nicht verfluchen, wo ich dir Böses, Schmerz und Zähneknirschen wünsche? (...) Die Beziehung zur Romangestalt besteht in der Ambivalenz, und die Gestalt ist mein Unglück, das ich eigenhändig schuf. Der Autor spricht: Ich verleugne meine Tat. Dieses Ungeheuer, das ich erschuf. Es ist weder Mann noch Frau. Weder Fisch noch Stein. Es hat keine Ähnlichkeit mit mir. Ist nicht das Kind meiner Eltern und auch nicht mit mir verwandt. Setzt es sich in Bewegung, gehe ich ihm nach. Verlasse ich es, folgt es mir. Wie ein Spitzel. Es ist nicht ich, und ich bin alles, was es ist. Ich bin nicht es, und es ist alles, wozu ich nicht in der Lage bin. Zwischen uns besteht kein Groll und kein Hass. Keine Freundschaft und keine Liebe. Woher kam es nur? Wie konnte es mein Haus erobern und Besitz ergreifen von mir? (...) Die Beziehung des Autors zur Romangestalt besteht in der Ambivalenz, aber die Gestalt ist auch sein Opfer und sein Versuchstier. Der Autor spricht: Ich erfinde eine Gestalt und verstecke mich hinter ihr, um Unheil anzurichten. Ich weine über meine Tat und verbünde mich mit den anderen gegen sie. Ich schicke die Gestalt vor, damit sie die erste Kugel trifft und ich mit heiler Haut, unversehrt entkomme. Ich verkaufe sie und setze sie dem Bösen aus. Lege ihr in den Mund, was ich nicht auszusprechen wage, was ich unterdrücke, wessen ich mich schäme. (...) Die Beziehung zur Romangestalt besteht in der Ambivalenz. Wie unbedeutend und einsam wäre ich ohne die Gestalt! Der Autor spricht: Sie verwirrt mich! Wie sehr sie mich verwirrt! Sie ist das Rätsel, das ich kreierte, und nun lehnt sie sich gegen mich auf. Bei ihr gedeiht alles, was mich begeistert. Grün ist ihr Weideland, angenehm und strahlend glitzert ihr Wasser. Ihre Angehörigen sind meine Familie, und mein Herz kreist für alle Zeiten auf der Bahn dieses leuchtenden Sterns. Sie tröstet mich, wenn meine Seele sich auf ihrem taubedeckten Gras ausbreitet. Ihre Bäume sind belaubt, von ihnen gehen Brisen aus, die zu meinem Fenster hereinwehen und die Vorhänge tanzen lassen. Sie schmeckt nach lauwarmer Milch. Schmeckt nach den elterlichen Stimmen, die uns Kinder sanft und friedlich in den Schlaf begleiteten. Wen habe ich außer ihr? Wer außer ihr bringt mir meine Selbstachtung, Unschuld und Reinheit wieder? Bin ich treulos, ergreift sie Partei für mich. Sie liebt mich. Kennt mich. Hält mir die Treue. Verlange ich nach ihr, dann finde ich sie auch. Stelle ich ihr eine Frage, gibt sie mir eine Antwort. Zwischen uns wird nie Frieden herrschen, doch sie ist meine Ruhe. Mein Glanz. Meine Sprache. Meine Gefährtin. Meine Angehörigen. Meine Nachfahren. Meine Leidenschaft, mein Begehren und meine tiefe Liebe. Die Romangestalten sind unsere Suche nach dem Sinn, einem beliebigen Sinn, und unsere Beziehung zu ihnen wird stets die Ambivalenz sein. Helden, die unsere öde Welt bevölkern, also lieben wir sie und hängen an ihnen. Sie führen an unserer statt das Leben, das sich uns widersetzt, störrisch wie ein Maultier, also beneiden wir sie. Sie betten unsere fragile Unschuld wie auf kostbares Kristall, also beschützen wir sie. Sie blamieren und entblößen uns, also hassen wir sie. Sie entreißen uns Rüstung und Maske, also grollen wir ihnen. Wir brauchen sie. Sie sind der Fluch und das Glück. Realer als wir. Sie sind es, in deren Adern nichts als die Sturzbäche der Worte fließen.Aus dem Arabischen von Leila Chammaa
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Autor: Najwa Barakat
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