Die neuen urbanen Räume, die Mega-Städte, eignen sich als Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit dem zeitgenössischen Indien in besonderer Weise: Sie sind Reflektionsfläche der komplexen Beziehungen zwischen Globalisierung, lokalen Traditionen und neu gestalteten Lebensräumen, hier finden zeitgenössische Kunstproduktion, spirituelle Körpertechniken und Heilverfahren, Volkskunst und Handwerk, Kino und Pop ihren gemeinsamen Platz. Hier lässt sich in besonderer Weise beobachten, wie sich traditionelle Ansätze in zeitgenössische Ausdrucksformen übersetzen, und wie sie in die künstlerische Praxis im "Westen" eingehen und virulent werden. Das Haus der Kulturen der Welt stellt in zwei Ausstellungen einerseits die zeitgenössische Avantgarde und andererseits die Entwicklung der indischen populären Kunst aus historischen Bildtraditionen vor. In Programmen zu zeitgenössischer Musik und zum Theater ist die Begegnung zwischen westlicher und indischer Ästhetik sowie die Produktion von Auftragswerken zentral. Das Konferenz- und Literaturprogramm macht hingegen durch einen genaueren Blick auf den Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Nationenbildung im 20. Jahrhundert die Entwicklung des Selbstverständnisses in der indischen Moderne zum Thema. Das Jugendprogramm mit einer Reihe programmbezogener Kunstprojekte wird junge Menschen mit einem modernen und unbekannten Indien konfrontieren und zugleich die Vielzahl der Verbindungslinien zwischen Europa und dem Subkontinent nahe bringen. Das Indien-Projekt, in seiner interdisziplinären Anlage und durch die enge Zusammenarbeit zwischen indischen und deutschen Kuratoren und Künstlern für Deutschland einzigartig, ist eingebettet in die Asien-Pazifik-Wochen des Berliner Senats, die Indien zum Schwerpunkt gewählt haben. Ausstellungen
Die zwei Ausstellungen im Haus der Kulturen der Welt untersuchen jenseits westlich geprägter Dichotomien zwischen Tradition und Moderne oder Kunst und populärer Kultur die Frage nach den Veränderungen des Bildes, seiner Herkunft, seiner Verwendung und Bedeutung im Kontext der indischen Gesellschaft. Mit der Ausstellung "Indian Popular Culture. 'Die Eroberung der Welt als Bild'" kuratiert von Jyotindra Jain, dem Musikprogramm und den Projekten aus den Performing Arts entsteht für den Besucher die Möglichkeit, der Konstruktion der indischen Kultur und der Entwicklung der Alltagsbildwelt z.T. aus kanonisierten Erzählungen in der Gegenwart auf den Grund zu gehen. Jyotindra Jain, Professor für Kunst und Ästhetik, früher Direktor des Crafts Museum in New Delhi, erarbeitet mit der kulturhistorisch orientierten Ausstellung die erste umfassende Darstellung und kritische Sichtung der Entwicklung der populären visuellen Kultur Indiens. Sie zeigt die Tradition von ikonografischen Motiven und Bildstrukturen von der Miniaturmalerei über die Kunstproduktion der Kolonialzeit bis hin zu den Billboard Malern. Die Ausstellung stellt nicht nur die Entstehung und die kontinuierliche Veränderung, Abwandlung, Neuerfindung der Bilderwelt sei dem 19. Jahrhundert sinnlich nachvollziehbar dar, sondern auch den kolonialen Kontext, die Geschlechterrollen und die Zusammenhänge zwischen Mythos und Alltagskultur. Die Bedeutung der populären Kultur für eine künstlerische Auseinandersetzung findet sich auch in den Werken der jüngsten Künstlergeneration Indiens. Diese wird im Mittelpunkt der Ausstellung "subTerrain: Artworks in the cityfold" stehen. Die Kuratorin Geeta Kapur gilt als die herausragende Kulturhistorikerin Indiens. Die Ausstellung thematisiert die Verknüpfungen von individuellen Prozessen mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie zeigt, wie zeitgenössische indische Künstler die sozialen, politischen Themen der indischen Megapolen in eine künstlerische Sprache übersetzen. Die meisten Arbeiten der Ausstellung werden zum ersten Mal in Europa präsentiert, auch Auftragswerke sind darunter. Künstler der Ausstellung sind: Navjot Altaf, Mumbai/Bombay; Sheba Chhachhi, Delhi; Atul Dodiya, Mumbai; Shilpa Gupta, Mumbai/Bombay; Subodh Gupta, Delhi; Anant Joshi, Mumbai/Amsterdam; Jitish Kallat, Mumbai/Bombay; Bhupen Khakhar, Baroda; Sonia Khurana, India/Holland; Nalini Malani, Mumbai/Bombay, Raghu Rai, Delhi; NN Rimzon, Sharmila Samant, Mumbai/Bombay; Trivandrum; Ranbir Singh Kaleka; Delhi; Vivan Sundaram, Delhi und Vasudha Thozhur, Baroda. Performing Arts
Das Performing Arts Programm in der konzeptionellen Betreuung durch die Regisseurin und Theaterlehrerin Anuradha Kapur widmet sich vorwiegend der Übersetzung klassischer Formen in zeitgenössische Performancekunst. Indien besitzt eine Theatergeschichte von 3000 Jahren, ein einzigartiges überliefertes Wissen über Darstellung, Personifizierungen, Körper- und Bewegungstechniken. Bis heute dominieren die klassischen Formen des Kathakali, Bharata Natyam oder Kathak die Theater- und Tanzszenen in Indien. Im Zentrum des Programms im Haus der Kulturen der Welt stehen Regisseure und Choreografen, die einerseits die alten Techniken und Dramenformen beherrschen, andererseits aber an aktuellen sozialkritischen und politischen Themen arbeiten, neue Bühnenkonzepte erproben und neue Texte und Konzepte für Schauspiel, Tanz und Kunstprojekte entwerfen. Es handelt sich um KünstlerInnen wie Padmini Chettur, Daksha Sheth, Maya Rao, Abhilash Pillai, Anuradha Kapur/Ein Lall und Gopal Venu. Deren Themen wie die Konstruktion von Körperbildern oder Geschlechteridentitäten, das Aufdecken sozialer Bruchlinien zwischen Globalisierung und lokaler Kultur oder die Entwicklung multimedialer ästhetischer Konzepte aus der indischen Performancetradition machen die Arbeiten zu Projekten, die auch für den Westen von hoher Relevanz sind. Musik
Auch die Musikgeschichte wird zunehmend durch Postkolonialismus, Globalisierung und Interkulturalität geprägt. Indien nimmt hier als klassische Musikkultur eine herausragende Stellung ein und erfordert neue Ansätze des Austauschs und der Kooperation. So hat die indische Musikwelt die Techniken und Konzepte, die in der abendländischen Musik im 20. Jahrhundert entwickelt wurden, kaum rezipiert. Dabei sind diese viel eher kompatibel mit indischen Kompositionsweisen und Techniken als mit der europäischen Musik vor 1900. Daher ist der Kern des von Sandeep Bhagwati kuratierten Musikprogramms die Begegnung zwischen indischen und europäischen Musikern und Komponisten, der Dialog zwischen herausragenden Solisten jenseits der Kategorien des Traditionellen und Zeitgenössischen. Contemporary Xchange, Indien - Europa ist ein Gemeinschaftsprojekt von Ensemble Modern und Haus der Kulturen der Welt, künstlerischer Leiter ist Sandeep Bhagwati. Als Komponist neuer Musik und als intimer Kenner der indischen Szene hat er die Basis geschaffen für einen Neuanfang im Dialog zwischen zwei herausragenden Musikkulturen. Die erste Phase dieses Projektes, die gemeinsame Entwicklung eines Programms, fand bereits im Januar 2002 in Mumbai/Bombay statt. In Workshops und Konzerten hat das Ensemble Modern neue westliche Komponisten vorgestellt. In einer zweiten Phase im Frühjahr 2003 erarbeiten indische Solisten und Komponisten mit dem Ensemble Modern in Deutschland die Bausteine für ein neues Indienprogramm. In Phase 3 wird das Ensemble Modern zusammen mit indischen Musikern das Programm unter dem Titel Rasalîla - Spiel der Gefühle im Haus der Kulturen der Welt uraufführen. Wortprogramm
Zwei Konferenzen werden sich mit der Politik der Geschichtsschreibung, der Spezifik einer indischen Moderne, sowie der Beziehung zwischen globalen und lokalen Räumen und Orten am Beispiel Indiens sowie der dortigen Diskussion um eine Nationalstaatsidentität beschäftigen. Eine weitere geht den weltweiten "Wanderungen" von Bildern in Zeiten der Globalisierung" nach. Die Konferenz Politics as the Site of the Modern: From the Fifteenth Century to the Present ist entsprechend der intellektuellen Tradition in Indien ein integriertes Programm von Literatur und Wissenschaft. Thema ist die Frage, wie sich Geschichtsschreibung (als Wissenschaft) und das historische Selbstverständnis (als Literatur) unter geschichtlichen, sozialen und politischen Verhältnissen wandeln. Geschichts- und Selbstverständnis stehen in enger Beziehung zur Konstruktion des Nationalstaats; die Konferenz wird sich mit den Stufen Kolonialstaat, Nationalstaat und Nationalismus und Globalisierung beschäftigen. Passages: On the Global Construction of Locality, die zweite Konferenz, stellt zunächst die Einheit von Territorialität, Identität und Kultur in Frage, um weiter nach der Konstruktion und Nutzung von lokalen und globalen Räumen und Orten im identitätspolitischen Kontext zu fragen. Anthropologen, Geographen, Kulturwissenschaftler, Künstler, Soziologen und Historiker werden gemeinsam über die Bedingungen der Konstruktion von "Lokalität" im globalen Hier und Jetzt reflektieren. Ebenfalls im Kontext der Globalisierung ist die Erweiterung des Bilderkosmos zu verstehen - in Alltagskultur, Film, bildender Kunst. Die Konferenz "Migrating Images" thematisiert die weltweite Wanderung der Bilder, ihre Transportwege und -mechanismen, Fragen transkulturellen Verstehens und Übersetzens und der Produktionsbedingungen in globalen Zusammenhängen. Literatur:
Das Literaturprogramm "Voices of Resistance: Real Lives, Imagined Lives" stellt 4 zeitgenössische Autoren Indiens vor - Githa Hariharan, Paul Zacharia, Faustina Bama, und Urvashi Butalia, deren Arbeiten als kreativ-künstlerische, gesellschaftspolitische und gender-spezifische Stimmen des Widerstands verstanden werden können. Fragen allumfassender Zensur, ökonomischer, künstlerischer und intellektueller Natur, werden in ihrer ambivalenten Spannung zu allgemeinen Globalisierungstendenzen ebenso reflektiert, wie ein erstarkender kultureller Nationalismus, der kaum Raum lässt für differenziertere, multiple Sichtweisen auf das, was "Indisch-Sein" (gewesen) sein könnte. Die vorgestellten Literaten und ihre Arbeiten stehen für den Versuch, zwischen den Zeilen eines ethnisch, religiös, historisch und geschlechtlich festgelegten Regelwerks zu lesen, und andere, identitäten-stiftende Räume für sich und den Leser zu eröffnen. Film
Die Filmreihe "Selbst Verfremdungen. Stadt, Körper und Gewalt im indischen Kino, 1974-2003" greift die zentralen Punkte des Indien-Festivals "body.city" auf: Stadt und Körper. Kurator Ravi Vasudevans Zusammenstellung von rund 25 opulenten Bollywood-Produktionen, Dokumentar- und Art-House-Filmen zeigt, wie der Film zum Vehikel der sozialen und kulturellen Neuordnung indischer Städte wurde und gleichzeitig die Voraussetzungen für das Entstehen einer neuen Massenkultur bot. Das Programm ist in fünf Blöcke eingeteilt, die deutlich machen, dass sich einzelne Themen - Wertewandel, Gewalt, Zerfall, Spiel der Identitäten, Migration - durch alle Genres hindurch ziehen und wie facettenreich und filmisch höchst unterschiedlich sich die indischen Regisseure mit ihnen auseinandersetzen.
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