In ihrem 1999 in Beirut erschienenen Roman "Der Himmel so nah!" erzählt Betool Khedairi von einem Mädchen, das als Tochter eines irakischen Vaters und einer britischen Mutter südlich von Bagdad in begüterten Verhältnisses aufwächst. Unweigerlich in die Konflikte der Eltern hineingezogen, befreundet sich das Mädchen gegen den Willen seiner europäischen Mutter mit Khadduja, Tochter der nicht weit entfernt wohnenden mittellosen irakischen Bauernfamilie ...
|
Wie alt bist du?, fragen mich die Erwachsenen. Ich spreize die Finger meiner Linken, hebe den rechten Zeigefinger und führe beide Hände zusammen. Sechs, antworte ich und zähle zur Sicherheit noch einmal nach. Und Khadduja ist auch sechs, füge ich immer hinzu. Und wer ist Khadduja? Sie wohnt auf dem Bauernhof, und sie geht nicht zur Schule, weil sie barfuss ist. Damals glaubte ich fest, dass Kinder, die keine Schuhe tragen, nicht zur Schule gehen. Alles um mich herum war größer als ich selbst, sogar deine Blicke, die du mir quer über den Frühstückstisch zuwarfst, wenn ich Mutter nicht Youm oder Yumma nannte, sondern Mummy. Meine wahre Größe spürte ich nur mit Khadija. Als einzige gab sie mir das Gefühl, dass es eine gab, die ebenso klein war wie ich. Und ich machte sie noch kleiner. Ich nannte sie Khadduja, Khadijalein. Sie war meine Welt und gleichzeitig alles, was zur zweiten Hälfte des Tages Gehörte. Die Welt, die sich zwischen unserem Haus und der Bauernhütte ihres Vaters an den Ufern des Tigris erstreckte, unser kleines Dorf zwanzig Meilen südlich von Bagdad. Zafraniya hieß es Land des Safrans. (...) Meine Mutter hatte es sich auf der schwarzen Couch in ihrem Zimmer gemütlich gemacht. Sie trug schwarz, und so fiel besonders deutlich auf, wie sehr ihre weiße Haut strahlte. Als seien Gesicht, Arme und Beine aus Porzellan. Sie sah aus wie eine importierte chinesische Pantomimepuppe, die achtlos hingeworfen auf dem Sofa lag. Um sich herum Modezeitschriften und einen Diät-Ratgeber verstreut, hörte sie den BBC World Service. Ihre Füße ruhten auf einem niedrigen Tisch neben einer Schale mit Haselnüssen und einer Zigarettendose, aus der jedes Mal beim Öffnen eine Melodie ertönte, die ich nicht mehr ertragen konnte. Du konntest es nicht leiden, dass sie raucht. Und überhaupt warst du ganz und gar dagegen, dass Frauen rauchen. Um dich möglichst von ihrem Qualm fernzuhalten, hattest du dir dein Zimmer am anderen Ende des Flures eingerichtet. Sie griff nach einem ihrer bunten Fläschchen mit den seltsamen Verschlüssen. Sobald sie die Maniküre beendet hätte, würde sie ihre Nägel lackieren. Feile, Zange und Schere im Schoß, hatte sie mein Eintreten kaum bemerkt. Hallo, Mummy. Hallo, wo warst du denn?, fragt sie in einem Englisch, so weiß wie ihre Haut. Auf dem Bauernhof, bestätige ich ihre Vermutung. Wie üblich braust sie auf, und mit Wucht tritt sie die Schale Haselnüsse vom Tisch. Du meinst wohl mit diesem verdreckten Mädchen! Habe ich dir nicht den Umgang mit dieser verlausten Göre verboten! Aber sie ist doch meine Freundin! No!, kreischt sie. Das ist nicht deine Freundin. Die wird dich noch mit Krankheiten anstecken. Hast du dort etwas gegessen?, fragt sie, während sie die verstreuten Haselnüsse vom Boden aufsammelt. Nur ein Stück Brot und ein bisschen Käse, antworte ich kleinlaut. My God!, ruft sie aufgebracht. Hast du denn nicht gesehen, dass ihre Mutter Feuer mit Kuhfladen macht und darin den Teig bäckt! Und hast du nicht den Schwarm Fliegen auf dem Käse gesehen, den sie mit ihren dreckigen Händen zubereiten und dann offen stehen lassen! Aber Mummy, wende ich ein. Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt, schneidet sie mir mit gekrampft erhobenem Zeigefinger das Wort ab. Er soll dir verbieten, dich auf dem Bauernhof herumzutreiben. Ich spüre, dass ich der Grund für den bevorstehenden Streit sein würde, obgleich die meisten Wochentage Szenen eines einzigen langen Streits sind! Mutter isst Toastbrot mit Butter und Marmelade. Du kaust ein Stück dunkles Brot, während du darauf wartest, dass ein Bauer hausgemachten gedickten Rahm bringt. Davon zu essen hat sie mir verboten, wegen der merkwürdigen schwarzen Punkte darauf, wie sie sagt. Mit angehaltenem Atem beobachte ich das Wechselspiel eurer Bewegungen. Sobald du dein Glas Tee hebst, stellt sie ihre Tasse mit Instantkaffee ab. Du setzt die Brille auf und runzelst unwillkürlich die Stirn, die Augen auf den kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher gerichtet. Tonlos läuft die lokale Komödie namens Unter dem Rasiermesser des Barbiers. Denn der Fernsehmechaniker vermochte dem Assistenten des Barbiers, Abussi, nicht zum Sprechen zu verhelfen. Mutter senkt die Times, die bereits ein paar Tage alt ist, die sie aber eben erst erhalten hat. Endlich klingelt das Telefon. Die Spannung ist gebrochen. Und kurz darauf ergreife ich die Flucht zu Khadduja. Heute habe ich frei. Wir werden uns ans äußerste Ende des Bauerhofes vorwagen, bis hin zu dem Drahtzaun, der das Grundstück umgrenzt und an dessen Innenseite dichtes Unkraut mit spitzen Dornen wächst. Verkratzte und aufgerissene Finger und Knie durch die messerscharfen Stacheln sind uns sicher. Khadduja hat dafür gesorgt, dass ihr älterer Bruder, Hatim, eine Schaukel für uns anbringt. Er befestigt einen von der Mutter aus Palmblättern geflochtenen Korb an einem Seil, dessen Enden er um die Stämme zweier benachbarter Palmen bindet. Khadduja gibt beim Schaukeln kurze, heisere Freudenschreie von sich. Abwechselnd schwingen wir, die Hände fest an den Sitz geklammert, auf unserem einfachen Spielgerät hin und her. Nun bin ich an der Reihe. Ich trete die Luft mit den Füßen ... steige aufwärts ... trete kräftiger ... steige höher ... schwebe durch den Raum ... ein milchiges Blau trägt mich ... die Palmen sind gänzlich unter meinen nackten Füßen ... die Sonne schwimmt im Fluss ... ich spreize die Zehen des einen Fußes ... Lichtstifte schimmern durch die vier Zwischenräume ... mit dem anderen Fuß trete ich kräftiger ... ich steige weiter aufwärts ... atme den Horizont ... und da geschieht es ... der Himmel so nah! Aus dem Arabischen von Leila Chammaa
|
Autor: Betool Khedairi
|
|
|
|
|
|