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DisORIENTation
Zeitgenössische arabische Künstler aus dem Nahen Osten
Blick in eine andere Zukunft
Tarek Abou El-Fetouh
24.07.2003
Erinnerung, Gewalt, Identität, Intifada, Konflikt, Wüste
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Szene aus der Performance von Ahmed El Attar
Ahmet El Attar
Sherif El Azma
Sherif El Azma
Sherif El Azma
Sherif El Azma
Betrachtet man die arabische Welt von weitem, so mag die Versuchung groß sein, ihre Kulturszene als ein homogenes Ganzes zu sehen. Aber die mehrfachen dramatischen Umwälzungen der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Irak, in Ägypten und in Syrien während der letzten 50 Jahre – ebenso wie der Bürgerkrieg im Libanon, die Besetzung Palästinas und deren Folgeerscheinungen für Jordanien – haben dafür gesorgt, dass in jedem dieser Länder die darstellenden Künste und ihre Ausdrucksformen eine eigenständige Entwicklung genommen haben.

In den meisten arabischen Ländern übernahmen die Revolutionsregimes der frühen Sechzigerjahre die Leitung und Finanzierung der Theater. Damit ging eine strenge Kontrolle der Kultur- und Medienszene einher. Grob gesagt, war die Bezeichnung „öffentlicher Sektor“ der Künste jahrelang ein scheinbar ehrenvolles Prädikat, so gut wie gleichbedeutend mit allem, was als revolutionäres Gedankengut, fortschrittliches Denken und ernsthafte, engagierte Kunst galt. Im Gegensatz dazu bezog sich der Begriff des „privaten Sektors“ auf kommerziell betriebene Formen der seichten Unterhaltung.
Zwar haben einige Regierungen des Nahen Ostens in letzter Zeit verschiedentlich Maßnahmen der Liberalisierung eingeleitet. Sie haben es plötzlich auffällig eilig, ihre direkte Kontrolle über die Wirtschaft aufzugeben und die Privatisierung des öffentlichen Sektors voranzutreiben. Was die darstellenden Künste und die Massenmedien betrifft, kann es jedoch keinen Zweifel geben: Beide unterstehen nach wie vor der staatlichen Maßregelung.
Wenigstens im Libanon ist die Lage seit einiger Zeit differenzierter, denn die politischen Umstände und der jahrelange Bürgerkrieg haben hier ein einzigartiges Klima der Freiheit entstehen lassen. Dieses ist – vielleicht paradoxerweise – aus dem Machtkampf der verschiedenen politischen Gruppierungen im Krieg hervorgegangen. Da es im Libanon über längere Zeit kein monolithisches, zentralisiertes politisches System gegeben hat, konnte sich auch das erstickende bürokratische Modell des „öffentlichen Sektors“ nicht durchsetzen.
In Palästina ist die Lage schon deshalb sehr speziell, weil seine Künstler unter den Bedingungen der Okkupation leben – mit allen Schwierigkeiten und Frustrationen, die das mit sich bringt. Wenn es die Umstände den Theaterschaffenden überhaupt ermöglichen, zu Proben zu gehen und zu spielen, dann beherrscht ein einziges, wesentliches Anliegen ihre Arbeit. Jede Kreativität steht hier im Schatten der politischen Unterdrückung. Die schöpferischen Impulse palästinensischer Künstler äußern sich also vor allem politisch, was in den allermeisten Fällen auf ein Agit-Prop-Theater des Widerstands hinausläuft.
Immerhin wurden in den Neunzigerjahren mehr und mehr Stimmen in der Region laut, die nach einer dezentraleren Vergabe der Subventionen und nach weniger staatlicher Zensur riefen. Verlangt wurde nichts anderes als mehr Freiheit und Raum zum Atmen. In dieser Zeit entstand der Begriff des „unabhängigen“ oder freien Theaters – er bezeichnet Aufführungen der verschiedensten Genres von Gruppen, die keine kommerziellen Interessen verfolgen und vor allem auf die künstlerische Qualität achten. Diese Gruppen kämpfen um einen Teil des Publikums und der öffentlichen Wahrnehmung, arbeiten jedoch unter dem Druck einer kaum verbesserten Rechtslage.
Etwa zur gleichen Zeit kehrten nach dem Ende des Bürgerkriegs im Libanon viele Menschen aus allen Teilen der Welt in ihr Land zurück. Sie knüpften an eine Tradition der Freiheit an und fanden ein stark konkurrenzorientiertes Bildungssystem vor. Mindestens vier Universitäten im Libanon bieten Studiengänge im Medien-, Film- und Theaterbereich an. Ein paar Jahre später begannen außerdem viele palästinensische Familien, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie waren nach den Osloer Verträgen von großer Hoffnung auf eine bessere Zukunft erfüllt. Damit brachten sie eine gesellschaftliche Dynamik in Gang, die auch in neuen Experimenten und in der Gründung neuer Theatergruppen ihren Ausdruck fand.
Obwohl die Kunst- und Kulturschaffenden im arabischen Raum während der Neunzigerjahre einiges erreicht haben, kämpfen sie noch immer mit ernsthaften Schwierigkeiten. Ein Problem ist die Zensur, der so gut wie niemand entkommt. Ein anderes ist die fehlende finanzielle Unterstützung. Denn staatliche Subventionen sind rar, und wo es sie dennoch gibt, sind sie mit staatlicher Kontrolle verbunden. Ungenügende Information über andere Geldquellen sorgen in Verbindung mit dem völlig unterentwickelten privaten Sponsoring der freien Künste dafür, dass das Geld immer zu knapp und die Räume immer zu eng sind. Das dritte große Problem ist schließlich die Gefahr, die vom religiösen Fundamentalismus ausgeht.

Bei unserer Auswahl haben wir den Schwerpunkt auf die Präsentation von Arbeiten weniger bekannter Künstler gelegt, die sich mit dringenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Fragen auseinander setzen. Zwei von ihnen werden im Folgenden kurz vorgestellt:
Der Ägypter Ahmed El-Attar hinterfragt mit Life is Beautiful or Waiting for my Uncle from America tief verwurzelte Sichtweisen. Die biedere Mittelklassefamilie in seinem Stück konfrontiert die Zuschauer ohne Unterlass mit Fragen zur patriarchalen Herrschaft, zum Konsumdenken und zur Ideologie der Familie. Der ungewöhnliche Einsatz wiederholungsintensiver Dialoge und der besondere Aufbau des Stückes haben Ahmed El-Attar als einen vielversprechenden Autor und Regisseur in Ägypten etabliert.
Sherif El-Azma ist ein ägyptischer Videokünstler, dessen Arbeiten sich vor allem mit der Klassengesellschaft, mit Geschlecht und mit Sexualität befassen. Er inszeniert seine erste Performance nach einer neueren Videoarbeit mit der ägyptischen Sängerin Donia Massoud. Sein trickreicher live-Einsatz von Donias Stimme im Zusammenspiel mit einer dreifachen Simultanprojektion seines Videos ist für das arabische Theater eine neue Erfahrung. Denn hier dominiert ansonsten seit Jahrzehnten der Einsatz von Sprache und Dialog.

Tarek Abou El-Fetouh ist Leiter des Young Arab Theatre Fund und Kurator des Performance-Programms von DisORIENTation

Aus dem Englischen von Herwig Engelmann

Autor: Tarek Abou El-Fetouh