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RASALÎLA - Spiel der Gefühle
Indische Virtuosen treffen aus das Ensemble Modern
Nicht immer nur neue Klänge: Neue Zugänge zum Klang. Sechs Fragen an Ashok Ranade

08.10.2003
Globalisierung, Kommunikation, Moderne, Tradition
"Die Zukunft der Musik ist eine planetare"
Das Ensemble Modern - Ein Porträt
Indien-Reisetagebuch von Wolfgang Stryi

Shubha Mudgal - Klassische Khyal-Sängerin und Popstar
Aneesh Pradhan - einer der hervorragendsten Tabla-Spieler Indiens
Dhruba Ghosh - brillanter Techniker und sensibler Virtuose auf der Sarangi
Die "Diaspora"-Komponisten - Klarenz Barlow, Param Vir, Naresh Sohal und Shirish Korde
Weitere Musiker und Komponisten - Aneesh Anandan und Uday Bhawalkar
Meera - Unorthodoxies
Ashok Ranade
Ashok Ranade Barbara Fahle
Der 1937 in Indien geborene Musikethnologe und Komponist Dr. Ashok Ranade plädiert für ein kongeniales Nebeneinander der in Indien verbreiteten Musikrichtungen und eine voraussetzungslose Offenheit in der Fusion von westlichen und indischen musikalischen Vorstellungen und Konzepten. Sein besonderes Interesse als Forscher gilt dabei in den Jahren seit seiner Emeritierung auch der vielfältigen Straßen-Musik der indischen Großstädte, die er gerne als eine "authentische urbane Volksmusik" bezeichnet.

Ashok Ranade verfügt über eine profunde klassische Gesangsausbildung, er schreibt Lieder, war Direktor des Musikzentrums der Universität von Mumbai, hat als Forscher für das American Institute of Indian Studies gearbeitet, diverse Posten in indischen Hochschulen bekleidet, Gastprofessuren in Europa innegehabt und war über viele Jahre Leiter der Abteilung Theaterwissenschaft und Ethnomusikologie des National Centre for the Performing Arts in Mumbai - eine Zeit, in der er in seinem respektlos genauen Hinterfragen der indischen Tradition für viele neugierige junge indische Künstler ein wesentlicher Anreger und Förderer war. Stipendien und Auszeichnungen haben seine wissenschaftliche und künstlerische Karriere begleitet, so der indische Preis für die beste Theatermusik. Unter seinen Arbeiten für das Theater sind besonders "Tempt Me Not" (1993) und "Rahile Door Ghar Maze" (1995) hervorzuheben, im Ausstellungbereich die Komposition für "Discovery of India" (Mumbai 1989).


Sandeep Bhagwati: Würden Sie die indische Kunstmusik als eine Art in sich ruhenden Idealzustand beschreiben, der nur auf traditionelle Weise re-produziert werden kann, oder ist sie beweglich und im Fluss?

Ashok Ranade: Die indische Kunstmusik hat eine "belastbare" Tradition. Dass heißt ja schon per Definition, dass sie sich im Lauf der Zeit verändert hat und sich weiterhin entwickelt - innerhalb von Normen und Regeln allerdings, die durch einen breiten kulturellen Konsens geschaffen wurden. Generell kann man beobachten, dass Neuerungen unablässig eingeführt wurden - aber in sanftem Übergang, mit Bedacht. Ausformulierte Grundsätze und Codes mahnen immer zur Vorsicht. Die dynamische Kraft zur Veränderung entsteht dann, wenn man jene Normen beherzigt, die einen zu ästhetischem Gelingen anhalten. Auf diese Weise vereinen sich der Impuls zu Veränderung und die Tendenz, an Bewährtem eine Weile festzuhalten, zu einer lebenden Tradition, der die indische Kunstmusik ihre Langlebigkeit verdankt.

Ich glaube, dass man diesen Prozess mit jener Art von dynamischer Beziehung vergleichen kann, die auch zwischen unserem Spieltrieb und unserem Bedürfnis, diesen mächtigen Trieb durch Spielregeln zu kanalisieren, besteht. Fruchtbar wird der Spieltrieb doch schließlich erst dann, wenn er zu der Entstehung von geregeltenSpielen führt! Natürlich kann man in die Luft springen, Berge hinauf rennen oder am Boden herumpurzeln und dabei glücklich sein! Solche Tätigkeiten verschaffen uns ein einmaliges Hochgefühl, eine reine Begeisterung des Körpers! Aber man ist doch insgesamt glücklicher, wenn man Fußball oder Cricket spielt oder gar an der Olympiade teilnehmen kann! Kinder spielen - aber auch sie neigen schon früh dazu, eigene Spiele zu entwickeln! Wenn Spielen befreit, bieten Spiele Freiheit! Letztendlich bedeutet Freiheit schließlich doch nichts anderes als die Macht, seine eigene Regeln zu entwerfen!

Die indische Kultur fordert einen auf, beim Musizieren auch in jedem Moment tatsächlich Musik zu machen. Auf diese Weise befreit sie uns! Traditionelle indische Theorien entwerfen Regeln, die Freiheit verheißen - um diese auszuloten, braucht man allerdings gewisse Fertigkeiten. Wer hat denn die Regeln zu den musikalischen Spielen, die wir spielen, zuerst festgelegt? Doch die, die diese Musik spielen. Erst später kommen dann einige und schreiben jene Regeln auf, die sich offenbar bewährt haben. Darin gleichen sie den Machern der Wörterbücher: In diese werden ja auch nur Wörter aufgenommen, die schon eine Zeitlang in Umlauf sind. Dann wieder treten andere auf, die Neues einführen. So setzt sich der Prozess des Spielens und des Ersinnens neuer Spiele fort!

In all dem glaubt die indische Kunstmusik fest an zwei Grundsätze. Erstens: "Wir alle" - und nicht "du allein" - sollten Neuerungen einführen. Und - ändere nicht ständig und nicht alles! Zweitens: Wisse, was du veränderst! Einfach, oder?

S. B.: Hat das Konzertieren vor westlichen Publikum die Musik selbst verändert?

A. R.: Indische Kunstmusik - wie auch viele andere hochentwickelte Traditionen in diesem weiten Universum der Musik - spricht uns auf vielen verschiedenen Ebenen an. Da gibt es für jeden etwas. Aber wenn man Musik auf diesen verschiedenen Ebenen genießen will, muss man einen Geschmack entwickeln. Das ist etwas anderes als nur eine persönlichen Vorliebe! Den Klang einer Sitar, einer Sarangi oder einer Tabla zu mögen ist eine rudimentäre, aber vielleicht unvermeidliche Stufe der Begeisterung. Aber: den Strukturen eines Ragas zu folgen, feinziselierte melodische Taan- Ornamente zu erkennen oder die Komplexität der Ausarbeitung eines Talas wahrzunehmen - dazu braucht man Übung.

Es gibt indische klassische Musiker, die damit zufrieden sind, beim westlichen Publikum nur auf der untersten Stufe der Kennerschaft Begeisterung hervorzurufen. Sie haben dem Anliegen ihrer Musik in Indien wie im Ausland schwer geschadet! Ich würde aber nicht sagen, dass das westliche Publikum die indischen Musiker verändert hat - es hat sie in Versuchung geführt! Unglücklicherweise gibt es ein solches Publikum aber auch in Indien. In Wahrheit ist die Schuld gleichermaßen verteilt und beide Seiten tragen dafür Verantwortung!

S. B.: Was sind die hartnäckigsten Mythen und falschen Vorstellungen über die indische Kunstmusik ?

A. R.: Es gibt ziemlich viele! Hier einige besonders reizvolle Beispiele: Die heutige indische Kunstmusik ist uralt! Um indische Kunstmusik spielen zu lernen, muss man sich in den Himalaja begeben, sich strengen Fastenregeln unterwerfen, sich einen Bart wachsen lassen und Perlenketten tragen! Indische Kunstmusik verändert sich nicht und ist immer gleich geblieben! Indische Raga-Tala Musik ist die einzige Art von Musik, die Indien hervorgebracht hat! Indische Musik ist per se spirituell und hat ausschließlich devotionale und heilige Funktionen ... und so weiter!

Am besten begegnet man diesen Mythen, indem man zugibt, dass sie Mythen (aber nicht unbedingt immer falsch) sind! Der zweitbeste Weg ist, Menschen wie mich einzuladen, um diese Musik für all jene zu spielen und zu erklären, die ihr, mir oder uns offen begegnen können!

S. B.: Was sind ihrer Ansicht nach die wirklichen Stärken westlicher Kunstmusik?
Was sind die wirklichen Stärken indischer Kunstmusik?

A. R.: Die Stärken aller Kunstmusik-Systeme sind letztlich fast immer sehr ähnlich. Kunstmusiken sind paradox: sie verstören und beruhigen zugleich, sie lullen den Hörer ein - und rufen in ihm eine kritische Haltung wach. Und schließlich schaffen sie es, Menschen im Hören zu befreien - um sie dann in eine Gemeinschaft von Individuen einzubinden!

Auf einer eher handfesten Ebene würde ich sagen, dass westliche Kunstmusik mich hauptsächlich durch ihre in all ihren Aspekten spürbaren Suche nach immer subtileren Klangfarben anspricht, durch ihre zugleich neugierige wie das Fremde umhüllende Haltung - und durch die Sorgfalt, mit der sie auf die gemeinsame Ordnung beim Musizieren achtet.

Indische Kunstmusik ist stark in ihrer Leidenschaft, vorgegebene Regelwerke aufs Intensivste zu erforschen - sei es in Bezug auf Melodie, Rhythmus oder den Text. Außerdem sehe ich eine Stärke der indischen Kunstmusik in ihrem nie unterbrochenen lebendigen Austausch mit fünf anderen Arten von Musik: primitiver Musik, Volksmusik, religiöser Musik, populärer Musik und dem, was in Indien "fusion" genannt wird: eine Musik, in der populäre westliche und klassische indische Musik sich begegnen, und die ich "confluence music" nenne.

S. B.: Gibt es eine Bewegung innerhalb der indischen Kunstmusik, die man als einen intellektuell und musikalisch befriedigenden zeitgenössischen Ansatz bezeichnen könnte? Oder ist schon diese Frage falsch: stellen sich in Indien ganz andere Fragen als die nach dem Verhältnis von Zeitgenossenschaft und Tradition?

A. R.: Heute erforscht die indische Kunstmusik eine Dimension, die sie bislang ignoriert hat: das Potenzial von Klang als Parameter der Musik in einem erweiterten Musikbegriff. Im Raga melodisch und im Tala zyklisch zu bleiben und dennoch viele diverse Ausdrucksmittel miteinander zu kombinieren - mit dieser Herausforderung ist sie zur Zeit konfrontiert. Viele indische Kunstmusiker sind eigentlich zeitgenössisch in diesem Sinne, aber unglücklicherweise wissen nicht viele, dass sie es sind! Viele fürchten jede Veränderung derart, dass sie tatsächlich Neues in sich selbst und ihrer Musik gar nicht erst wahrnehmen! Ja ich glaube sogar, dass ganz Indien gegenwärtig auf der Suche nach einem Neuen Lied ist - auch wenn diese Suche oft unbewusst stattfindet!

S. B.: Auf welche Art und Weise könnten Sie sich eine ästhetisch und philosophisch fruchtbare Aneignung der westlichen Kunstmusik durch die indische Kunstmusik vorstellen?

A. R.: Tiefere musikalische Entwicklungen finden dann statt, wenn sich Kulturen einander annähern, nicht, wenn sie sich bekämpfen. Man sollte versuchen, Plattformen zu schaffen, auf denen die westliche und die indische Kunstmusik in einen nachhaltigen Dialog treten können. Wissen heißt Sich-Ändern! Um zu erfahren, muss man das Andere ernst nehmen!

Wie die bisherige Arbeit des Ensemble Modern und unser Projekt mit ihm beispielhaft zeigen, besitzt die zeitgenössische westliche Kunstmusik eine gut informierte Neugier sowohl auf andere musikalische Systeme als auch auf Musik außerhalb jeglicher Systeme. Sie hat das unstillbare Bedürfnis, zwischen Modernem, Neuem und Originalem zu unterscheiden. Außerdem kann sie künstlerische oder schöpferische Niederlagen akzeptieren - und auch das ökonomisch Erfolglose! Sie ist also gut gerüstet, um auch solche kompositorischen Ansätze zu ermöglichen, die Forschung nötig machen. Was wir brauchen sind nicht immer wieder neue Klänge, sondern vielmehr: neue Zugänge zum Klang! Das könnte uns von Musik-Erzeugern zu Musik-Schöpfern machen.

Autor: Das Gespräch führte Sandeep Bhagwati / Ashok Ranade spoke to Sandeep Bhagwati

Kontakt: Gabriele Stiller-Kern stiller.kern@t-online.de