Thomas Burkhalter stellt bei der jungen algerischen Musikszene einen Wandel weg vom französischen Raï und hin zum algerischen Rap fest. Damit verbindet sich zugleich eine neue Sicht auf Rap und Hiphop, die in Algerien wieder zu ihrem Ursprung zurückfinden. Das Mikro wird zum Symbol und Sprachrohr für die Forderungen einer Jugendbewegung, die sich gegen Regierung und Gesellschaft gleichermaßen wendet.
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Seit zehn Jahren experimentiert Algeriens Jugend mit Hip Hop und keiner in Europa will es merken. Rap gilt als Ausdruck zunehmender Amerikanisierung und ist daher keiner Unterstützung wert. Rap ist MTV-Kultur, ist McWorld, ist Sinnbild einer verlorenen Generation, die ihre lokale Identität und ihre Wurzeln leugnet. Diese Sichtweise ist falsch: Will die Weltmusik-Welt Realitäten abbilden, gehört algerischer Rap ins Repertoire. Rap hat in Algerien heute weit mehr zu sagen als der gut vermarktbare Global-Raï der Superstars Khaled, Cheb Mami, Faudel und ihresgleichen. Während Raï vor allem seit den Achtzigerjahren von einer stark lokal geprägten Musik zu einer globalen Allerweltsmusik mutiert, entwickelt sich der algerische Rap in die Gegenrichtung. MBS (Le Micro Brise le Silence), Intik, Hamma Boys, Brigade Anti-Massacre und SOS heissen die Vorreiter der über hundert Rapgruppen, die heute in Algier und Oran mit den in Algerien verbliebenen Raï-Sängern und Produzenten in Konkurrenz treten. Sie ahmen nach, was sie via Satelliten-TV aus den USA und Frankreich empfangen, übernehmen Musik, Mimik, Gestik und Kleidung. Allerdings rappen immer mehr Gruppen nicht in Französisch oder gar Englisch, sondern verwenden selbstbewusst den algerischen Dialekt. Diese neue Generation junger Musiker, die größtenteils ohne geregelte Arbeit ist, nimmt politisch kaum ein Blatt vor den Mund, prangert sprechsingend Bürgerkrieg, Wirtschaftskrise und Ungerechtigkeiten an und lässt sich von niemandem einschüchtern: weder vom Regime noch von Islamisten. "Wenn du schweigst, stirbst du, wenn du sprichst, stirbst du auch; also sprich und stirb", schrieb der algerische Schriftsteller Tahar Djaout kurz vor seiner Ermordung; einige Gruppen nahmen dieses Motto auf, MBS druckte es aufs CD-Cover. Rap ist das musikalische Äquivalent zu den jüngsten Jugend-Protestbewegungen, die stark an die Jugendrevolten von 1988 erinnern. "Ich muss die Wahrheit aussprechen und denen eine Stimme geben, die misshandelt wurden. Ich spreche von Kindern, die verbrannten, von meinen Schwestern, die vergewaltigt wurden. Wir sind wie Vögel, die in einem Käfig gefangen gehalten werden, dürstend nach Freude und Freiheit", rappen Intik. Ihre Musik produzieren die Sprechjongleure selber und scheinen damit weniger fremdbestimmt als die lokalen sowie globalen Interpreten des Raï. Wenn das auch schwierig ist: "Die Produktion unserer Kassetten kostet ein Vielfaches mehr als im einheimischen Raï. Wir nehmen in ein-zwei Tagen ein Stück auf, Raï-Sänger in einer Stunde ein ganzes Album", erzählt Ourrad Rabah von MBS: "Haben wir einige Stücke fertiggestellt, versuchen wir sie einem Herausgeber oder Produzenten schmackhaft zu machen. Findest du einen Herausgeber, zahlt er dir einen Minimalpreis pro verkaufte Kassette. Kaum einer allerdings will etwas mit Rap am Hut haben. Rap ist zu brisant." Vom Raï halten die meisten Rapper nicht viel. Raï sei französisches Varieté ohne Botschaft, meinen sie. Erste Gruppen wie MBS und Intik haben den Sprung in den Westen geschafft und CDs bei multinationalen Labels eingespielt. Dass sie sich, wie viele Raï-Sänger es tun, vorschreiben lassen, wie der "Orient" zu klingen hat, kann man sich im Moment kaum vorstellen. Ungewiss ist die Zukunft trotzdem. Ourrad Rabah hofft, dass algerischer Rap wächst und kein vorübergehender Trend ist. "Ich hoffe, dass der Rap Einlass in die grossartige und vielfältige algerische Musikkultur findet, und ich träume davon, dass unsere Kassettenindustrie und die Konzertveranstalter unsere Kunst zu achten beginnen und endliche faire Gagen zahlen."
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Autor: Thomas Burkhalter
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