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DisORIENTation
Zeitgenössische arabische Künstler aus dem Nahen Osten
DisORIENTation – ein Tagebuch: Teil 2
Jack Persekian
24.07.2003
Erinnerung, Gewalt, Identität, Intifada, Konflikt, Wüste
Bildergalerie
Schreiben als Autobiografie der Seele oder Ist Schreiben eine angemessene Alternative zur Verzweiflung
Fortpflanzung und Ambivalenz
Der Himmel – so nah!
Die jordanische Wüste
Beduinen, Satellitenschüsseln und steinerne Spiegel

Wege durch Literatur und Exil
Erwägungen zur Musik des Orients
Blick in eine andere Zukunft
DisORIENTation – ein Tagebuch: Teil 1

Moataz Nasr, Waterstills
Moataz Nasr, Waterstills
Lara Baladi
Lara Baladi
Freitag, 13. September '02

Mein nächstes Ziel war Ägypten. Wieder flog ich von Tel Aviv ab, was immer eine nervenaufreibende Prozedur ist. Das israelische Flughafenpersonal ist für seine unerbittlich strengen Sicherheitsmaßnahmen berüchtigt, und so wird jeder Palästinenser, ob Mann, Frau oder Kind, der sich auf dem Ben Gurion Airport einfindet, zum Verdächtigen. Ein Abflug aus Tel Aviv bedeutet jedes Mal stundenlange Verhöre, Leibesvisitationen, Verspätungen und endlose Warterei.
Es beginnt schon an der Zufahrt zum Flughafengelände, wo arabische Autos – an ihren Nummernschildern leicht erkennbar – aus dem Strom der anderen Fahrzeuge ausgesondert werden. Sie müssen sich in eine Schlange einreihen und warten. Dann beginnt die peinliche Befragung mit einer Identitätskontrolle aller Insassen. Darauf folgt die Kontrolle jedes einzelnen Gepäckstückes. Zuletzt wird das Auto von allen Seiten, von innen und außen gründlich inspiziert. Betritt man das Flughafengebäude, muss sich jeder palästinensische Araber erneut anstellen, um durch die Röntgendetektoren zu gehen. Während sich alle anderen Passagiere den strikten, aber heute überall üblichen Sicherheitskontrollen unterziehen, müssen sich im Flughafen Ben Gurion die Araber stets zur Personenkontrolle in besonderen Warteschlangen einreihen. Bei den „nicht-jüdischen Bürgern“ des Landes trauen die israelischen Sicherheitsbeamten noch nicht einmal ihren eigenen Durchleuchtungsgeräten. Stattdessen wird wieder jedes Gepäckstück genauestens untersucht. Es folgt eine Leibesvisitation hinter verschlossener Türe. Schließlich darf der Fluggast sich zum Check-in-Schalter seiner Fluglinie und zur Passkontrolle begeben, wobei ihn aber ein aufmerksamer Sicherheitsbeamter auf Schritt und Tritt begleitet.
Bei früheren Reisen nach Kairo habe ich erlebt, wie Araber stundenlang festgehalten wurden. Selbst bei solchen mit ausländischem Reisepass wie mir schöpft man Verdacht, sobald der Name arabisch klingt. In meinem Fall, der ich mit amerikanischem Pass und armenischem Namen nach Ägypten unterwegs war, konnte ich aufatmen.
Meine Ankunft erfolgte pünktlich zur Eröffnung von Photo Cairo, einer Ausstellung in der Townhouse Gallery. Beteiligt waren vier KünstlerInnen. Eine Arbeit von Lara Baladi faszinierte mich besonders.
Nach einer Erzählung aus 1001 Nacht betitelt, bestand Laras al-Fanous al-Sihri (Die Zauberlampe) aus einem achteckigen, sternförmigen Röntgenapparat von neun Metern Durchmesser. Dieses Gebilde war an nur einem einzigen Punkt an der Decke befestigt. Laut Baladi spielt diese hängende Struktur auf einen der gewaltigen Leuchter an, die sich in der Kairoer Mohammed-Ali-Moschee befinden. Auf dem Monitor läuft das Bild einer typisch ägyptischen weiblichen Puppe. Man sieht die Geburt einer solchen Babypuppe, die ihrerseits wächst und schwanger wird, um wiederum eine Babypuppe zur Welt zu bringen. Dieser Zyklus wiederholt sich ad infinitum. Jedesmall kullert das Baby in einer naiven Trickfilmdarstellung in die Welt hinein. In Videostills aufgelöst, erinnern die abgehackten Bewegungen der täppischen Hauptfigur an Bilder aus dem Sandouk El-Dounia, einem traditionellen Straßentheater für Kinder.
Diese Arbeit von Lara Baladi wäre mit ihrer kritisch-feministischen Perspektive perfekt für die Berliner Ausstellung gewesen. Doch die Vorschriften dort verbieten jeglichen Eingriff in die denkmalgeschützte Bausubstanz des HKW. Eine Aufhängung dieses Objekts von einer Tonne Gewicht war also unmöglich. Nach langen Diskussionen mit der Künstlerin und dem Team das HKW sowie nach einigen Berlin-Besuchen im Oktober und November entschied sich Lara schließlich für ein vollkommen neues Projekt. Sandouk El-Dounia (Die Welt in der Kiste) besteht aus einer riesigen Stellwand mit mehr als 900 Bildern, die so angeordnet sind, dass sie einem traditionellen Brettspiel ähneln. Gleichzeitig stellen diese Bilder eine Miniaturstadt dar, deren Frauen als verzerrte Karikaturen in einem chaotischen urbanen Kontext erscheinen. Diese moderne Stadt verwandelt sich in ein Labyrinth, wo alle Schöpfung destruktiv wird und
„wo inmitten des Chaos, das die bevorstehende Apokalypse markiert, die zentrale Figur steht. Sie geht zurück auf Maha Kali (…), deren Zunge die kennzeichnende Geste der zerstörerischen Hindugöttin widerspiegelt. Dabei geht es um die Feststellung, dass aus der Finsternis das Licht entsteht und dass es Weisheit, Klarsicht und Ordnung im Wahnsinn gibt; denn wie Kali besteht die Figur als Zeichen für die Notwendigkeit von Zerstörung um des Wiederaufbaus und letztlich um der Wiedergeburt willen“ .
In Kairo stellte mich William Wells, Direktor der Townhouse Gallery, Moataz Nasr vor, der vor kurzem ein interessantes Video auf einer geschäftigen Kairoer Straße aufgenommen hatte. Es zeigt das Spiegelbild mehrerer Gesichter in einer Wasserpfütze. Weil aber die Oberfläche immer wieder erzittert, kann man die Gesichter nie wirklich erkennen. Sobald der Spiegel sich beruhigt und die Gesichter sich abzuzeichnen beginnen, tritt jemand in die Pfütze und löscht die Konturen wieder aus. Moataz schlug vor, dieses Video in einem Kammer zu zeigen, auf deren Fußboden tatsächlich eine echte Pfütze wäre. Der Zuschauer könnte so die Videobilder in der Realität nachstellen. Vom eigenen Spiegelbild in der schimmernden Oberfläche einer „strategisch platzierten“ Pfütze wäre der Betrachter dazu verlockt, das eigene oder womöglich auch das Abbild von jemand anderem zu zertreten.
Moataz schlug dann noch eine zweite Installation vor, die er eigens für die Ausstellung entworfen hat. Dabei stehen zwei Videomonitore einander gegenüber. Auf dem einen sieht man einen Ausschnitt aus einem populären ägyptischen Spielfilm von Youssef Chahine. Ein alter Mann spricht zu einer Gruppe junger Bauern und erzählt, wie „zu seiner Zeit“ die Männer noch „ganze Männer“ waren, während es heute nur noch charakterlose Schwächlinge gebe. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes läuft gleichzeitig eine Nachstellung derselben Szene. Eine junge Ägypterin spricht mit denselben Worten zu einer Gruppe ganz normaler Besucher eines Kaffeehauses im Jahre 2003. Beide Ausschnitte haben dasselbe Timing und laufen mit derselben Geschwindigkeit ab, so dass der eine das Echo das anderen ist. Nichts hat sich geändert.


Dienstag, 1. Oktober '02

Ich bin unterwegs zum denkwürdigen ersten Zusammentreffen mit allen Beteiligten an der Ausstellung. Nach meinen Einzelbegegnungen mit den Künstlern in ihren Heimatländern freue ich mich besonders auf ein Wiedersehen mit Róza El-Hassan. Obwohl unsere Wege sich seit der Biennale von São Paulo 1998 nicht mehr gekreuzt haben, sind wir in regelmäßigem Kontakt geblieben. Einmal habe ich sie sogar aus ihrem derzeitigen Wohnort Budapest zu einem Besuch und zu einer möglichen Ausstellung nach Jerusalem eingeladen. Das lehnte sie jedoch ab, weil sie hin und wieder Verwandte und Freunde in Syrien besucht – das wäre durch eine Jerusalem-Reise in Zukunft wohl erschwert worden.
Leider musste ich dann erfahren, dass es während ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung gebrannt hatte und sie nun mit ihrer kleinen Tochter irgendwo Unterschlupf finden musste. An eine Reise nach Berlin war nicht mehr zu denken.
Róza hat sich dafür entschieden, ein Bild ihrer Züricher Blutspende-Performance auszustellen, bei der sie und mehrere andere beim Roten Kreuz Blut gespendet hatten. Dabei hielt Róza ein zusammengerolltes Plakat in Händen, das Arafat bei der Blutspende für die Opfer der Anschläge vom 11. September zeigte. Über die Fragilität der Trennlinie zwischen politischem Aktivismus und Performance war sie sich im Klaren. Bei einer früheren Aufführung in Budapest lag das Plakat mit dem Blut spendenden Arafat nämlich offen ausgebreitet da. Das Motiv war dann von Rechtsextremisten umgedeutet und als Beleg dafür missbraucht worden, es müsse mehr Blut fließen, um die unerwünschten Elemente in der Gesellschaft auszumerzen. Mit ihrem syrisch-ungarischen Hintergrund ist Róza mit den Fallstricken bestens vertraut, die das Verhältnis zwischen Europa und dem Nahen Osten prägen. Es sind Unterschiede in Kultur, Mentalität und Religion. Dagegen bieten ihr die Heimat und ihre Familie einen festen Boden, auf dem Differenzen ausgeglichen und Unterschiede angenähert werden. Aus diesen Erfahrungen schöpft sie reichhaltiges Material für ihre Arbeit.
Jananne Al-Ani hatte ich bei Homeworks kennen gelernt, einem Kunstforum, das Christine Tohme im März 2002 in Beirut organisierte. Al-Ani war eine echte Entdeckung. Im Rahmen unseres Berliner Zusammentreffens hatten wir die seltene Gelegenheit zu einer Form der Zusammenarbeit, von der wir sonst noch nicht einmal träumen können, seit ein Teil meiner Heimat vom Rest der arabischen Welt abgeschnitten ist. Schon während unserer hastigen Begegnung in Beirut war ich beeindruckt von Jananne und ihren Ideen, die sie in unserer Diskussion entwickelte. Die wenigen gemeinsamen Tage in Berlin ermöglichten einen konzentrierten Austausch über diese Themen und Anliegen und über unsere Erwartungen und Vorbehalte bezüglich ihres Projektes für Berlin. Jananne nahm die Örtlichkeit in Augenschein, bat sich Bedenkzeit aus und kam mit einem höchst interessanten Vorschlag zurück, der das Setting, das Gebäude und die Idee der Orientierungslosigkeit zusammenspannt.
„Mein Vorschlag sieht das sporadische Abspielen von stillem Gelächter in verschiedenen Teilen des HKW vor. Dieses Gelächter steigert sich immer weiter, wird "hysterisch" und kippt schließlich um in Weinen und Schluchzen. Das Geräusch tritt nur gelegentlich und so leise auf, dass die Menschen glauben können, es ereigne sich irgendwo im Gebäude tatsächlich etwas, das man bloß gerade nicht sehen kann.“
Jananne schlug noch eine zweite Arbeit vor, die sehr eng mit ihrer früheren Auseinandersetzung mit Schleiern und Verhüllungen zu tun hat. Das Projekt sieht eine Videoprojektion in großem Maßstab vor, bei der eine Frau ihr langes dunkles Haar über ihr Gesicht hinabkämmt. Das Band läuft in Endlosschleife und man sieht immer nur die Kämmbewegung, aber niemals das Gesicht.
Susan Hefuna lebt in Ägypten und Deutschland. Ich hatte ihre Arbeiten im Rahmen einiger Veranstaltungen der Townhouse Gallery in Kairo gesehen. Ich wollte sie schon zuvor für eine Residenz in der Jerusalemer Al-Ma'mal Foundation gewinnen. Gleich nachdem ich den Auftrag erhalten hatte, DisORIENTation zu kuratieren, meldete ich mich bei ihr. Ende Juli lag Susans Proposal vor. Sie wollte über eine Porträtbüste der Nofretete arbeiten, die im Westen als Inbegriff des Alten Ägypten populär geworden ist. Diese Ikone der Anmut ist in Werbung und Populärkultur allgegenwärtig. Durch die Beschäftigung mit dem altägyptischen Symbol wollte Susan die Bedeutung der Nofretete für Berlin, ihre Wahrnehmung durch die Bewohner der Stadt sowie den Einfluss untersuchen, den diese Büste auf das Bild von Arabern im Allgemeinen, Ägyptern im Besonderen ausübt.
In einem anderen Vorschlag, nämlich für das Video Life in the Delta, wirft Susan einen subjektiven Blick auf jenen Ort, der Teil ihres persönlichen Erbes ist; ein Ort, zu dem sie gehört und der ihre Persönlichkeit und Identität mitgeformt hat. Rose Issa schreibt über diese Arbeit:
„Susan Hefunas Arbeit handelt von Entwurzelung (displacement). Sie erzählt von der Komplexität eines interkulturellen Dialogs. Im Mittelpunkt stehen Fragen über Identität und Repräsentation des ägyptischen Volkes und der ägyptischen Frauen in der deutschen Diaspora. Hefuna spielt in ihrer Arbeit mit den unterschiedlichen kulturellen Codes und mit dem Umstand, dass es keinen "unschuldigen" Blick geben kann – er ist immer schon kulturell konditioniert. Bei all diesen komplexen und vielschichtigen Erfahrungen – und insbesondere in der Spannung, die Hefuna, ausgebildet an deutschen Kunsthochschulen und mit deutschem/westlichem Denken vertraut, hinsichtlich der Stereotypen über moslemische Frauen im Westen empfindet – hinterfragt sie die Präsentation von und die Sichtweise auf ägyptische Kultur und wie sie selbst sich in ihrer deutschen wie ägyptischen Diaspora einordnet.“


Mittwoch, 18. Dezember '02

Ich glaube, ich werde an dieser Stelle aufhören. Bis zur Eröffnung sind es noch drei Monate, und zweifellos wird die Unbeständigkeit des Lebens und der Kunst Form und Inhalt der Ausstellung weiterhin verändern. Meine Suche nach neuer arabischer Kunst hat mich reale Grenzen überschreiten lassen, aber auch zu einem Nachdenken über die Künstler geführt, die sich den Grenzen ihrer eigenen Länder stellen, die die Parameter ihrer Traditionen neu formulieren und ihre Identitätsgrenzen als Männer oder Frauen, als Araber, als KünstlerInnen hinterfragen. Und sie problematisieren auch die Trennlinien zwischen Fiktion und Wirklichkeit … Wirklichem und Imaginärem – das lässt mich wünschen … wünschen, ich hätte den Mut der Künstler, mit denen ich arbeite. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn manche der hier beschriebenen Ereignisse nur ausgedacht wären, um die Erzählung interessanter zu machen. Wäre es nicht wunderbar, wenn Ali Jabri gar nicht tot wäre, wenn Wali Zadek bei der Ausstellung mitmachte und wenn all die Barrieren, Grenzen und Besatzungen gar nicht existierten?

Ich danke Kamal Boullata für zahlreiche Hilfestellungen beim Verfassen dieses Essays.

Autor: Jack Persekian