Der nachfolgende Bericht von meinen Reisen und Nachforschungen versucht, die Umstände zu beleuchten, die das Ausstellungsprojekt DisORIENTation auf so vielfältige Weise geprägt haben.
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Donnerstag, 15. August '02 Die jordanische Hauptstadt Amman liegt nur 100 km östlich von Jerusalem, doch um den Grenzkontrollpunkt am Jordan zu passieren, braucht man eine Sondergenehmigung vom israelischen Innenministerium. Dessen Angestellte streiken aber schon seit fast vier Monaten. Zum Glück habe ich mein israelisches Reisedokument vor ein paar Monaten verlängern lassen, sodass ich das Land wenigstens über den Tel Aviver Flughafen Ben Gurion verlassen kann. Dieses unverzichtbare Dokument gibt es nur für die Einwohner von Jerusalem mit der Bezeichnung resident (ansässig). Es ist ein Jahr gültig und umfasst ein Wiedereinreise-Visum, das es uns die wir nicht die israelische Staatsangehörigkeit besitzen erlaubt, in unseren Geburtsort zurückzukehren. Seit der israelischen Besetzung Jerusalems im Jahr 1967 haben dort geborene und wohnhafte Palästinenser den Status von permanent residents, also dauerhaft Ortsansässigen. Mit Schwierigkeiten bei der Einreise nach Jordanien brauchte ich nicht zu rechnen. Da ich im Besitz eines amerikanischen Reisepasses bin, entgehe ich meist den üblichen Befragungen und ärgerlichen Verzögerungen, mit denen andere Palästinenser leben müssen. Ich gelte als Ausländer. Da ist natürlich mein nichtarabischer Name hilfreich. Ali Jabri war der profilierteste Künstler, den ich in Amman getroffen habe. Bei unserer ersten Begegnung schien er verzweifelt darüber, dass es in Jordanien keine ernst zu nehmende Kunstszene gibt. Später wurde mir klar, wie völlig entfremdet und fehl am Platze er sich fühlte. Er konnte sich noch nicht einmal vorstellen, seine eigenen künstlerischen Vorhaben dort zu verwirklichen. Die jordanische Öffentlichkeit steht jeder echten künstlerischen Auseinandersetzung total desinteressiert gegenüber. Ali erklärte diese Gleichgültigkeit mit dem brutalen Bruch zwischen der aktuellen Situation und dem kulturellen Erbe der Vergangenheit. Als ich Ali von dem Plan einer Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt erzählte, schlug er die Rekonstruktion eines verfallenen Wohnhauses vor, das ihm am Wüstenhighway zwischen Amman und Aqaba aufgefallen war. Er zeigte mir etliche Fotos dieses Ortes, darunter auch Nahaufnahmen. Eine solche Rekonstruktion verfallener Schönheit im Rahmen der Ausstellung würde, so erläuterte Ali, sinnbildlich nicht nur für Jordanien stehen, sondern für unsere gesamte Region, die er in einem Zustand der Orientierungslosigkeit und allmählichen Auflösung sah, letztendlich dem Untergang geweiht. Während ich Ali zuhörte, wie er sich angesichts der Düsternis um ihn herum seine Frustration und Verzweiflung von der Seele redete, wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass die deprimierenden Zustände diesen leidenschaftlichen Mann selbst vernichten könnten: Am 2. Dezember 2002 starb Ali Jabri in seiner Wohnung in Amman, man hatte ihm kaltblütig die Kehle durchgeschnitten. Bis heute weiß niemand, warum es zu dieser Gewalttat kam, der Mörder ist nie gefasst worden. Ali Jabris grausamer Tod hat mich bis ins Innerste erschüttert; ein Verlust, den ich bislang nicht habe verwinden können. Er war zwar der älteste Künstler unserer Ausstellung, aber in seinem Herzen war er jünger als die meisten. Dank einer E-Mail, die Ali mir knapp einen Monat vor seinem Tod geschrieben hat, konnte sein Projekt trotz allem Teil der Ausstellung werden. Er schrieb: An meinem letzten Tag im Haus der Kulturen der Welt, in seiner verträumten Parklandschaft so entrückt von unseren eigenen urbanen Verkommenheiten, gingen mir die Themen wie Kulturverlust, Verstörung, Unterbrechung, Auflösung, Verschwinden durch den Kopf. Dabei fiel mir meine Fotoserie vom Juni 2002 ein, die ich an der neu eröffneten Behelfsstrecke für LKWs nach Aqaba gemacht hatte. Damals hatte ich eine offizielle Erlaubnis einholen müssen. Kein Regime des Nahen Ostens duldet die Dokumentation staatlicher Infrastruktur. Man läuft immer Gefahr, festgenommen zu werden. Es ist die dauernde, paranoide Angst vor einer ausländischen Verschwörung ... Mein harmloses Motiv war die eindrucksvolle Abfolge von Hochspannungsmasten, die die Topographie der zerklüfteten Gebirgslandschaft und ihre inzwischen ausgelöschten Erinnerungen an die arabischen Aufstände von 1918 nachzeichnen, und zwar bis zur städtischen Enklave am Ufer des Roten Meeres ... Dauernd hatte ich Angst vor Fehlern, vor einem falschen Schwarz-Weiß-Film und der falschen Tageszeit (es war zu früh, wie mir bei der Rückfahrt zwei Tage darauf klar wurde, als diese stählernen Gerüste im Nachmittagslicht zu glühen schienen). Mein Vorschlag wäre, die eher missglückten Kodak-T400CN-Abzüge bis zur Höhe der fünf Säulenstellungen zu vergrößern, die als eine Art Wald im Eingangsbereich des HKW aufragen und sich im Laufe des Tages mit dem Licht verändern ... Eine zitathafte Abfolge von früher einmal kulturell aufgeladenen Landschaften, seit 25 Jahren naturalistisch abgebildet und jetzt in schwarz-weißer, linearer grafischer Darstellung als Embleme eines unwiderruflichen Wandels interpretiert. Sonntag, 18. August '02
Von Jordanien aus wollte ich weiter nach Syrien und in den Libanon. Normalerweise wäre es am günstigsten gewesen, von Amman aus eine bequeme, dreistündige Fahrt nach Damaskus zu machen und von dort nach Beirut weiterzureisen. Die verkorksten politischen Verhältnisse in der Region erforderten aber eine andere Streckenführung: zuerst in den Libanon, dann nach Syrien. Wenn ich nämlich von Jordanien aus direkt nach Syrien reise und dabei meinen amerikanischen Pass vorzeige, in dem als Geburtsort Jerusalem angegeben ist, merkt der Grenzbeamte sofort, dass ich direkt von dort komme. Um also jegliche Komplikation an der Grenze zu vermeiden, entschloss ich mich, meine israelischen Reisedokumente und alle anderen Unterlagen, aus denen man meine bisherige Reiseroute hätte ersehen können, bei einem Freund in Amman zu lassen. So würden mir die Grenzbeamten die Einreise nicht verweigern, weil ich von "feindlichem Territorium" käme. Ich entfernte sogar das hebräische Etikett meiner Shampooflasche für den Fall, dass man mein Gepäck durchsuchte. Fänden sie diese hebräische Aufschrift, könnte ich von Glück sagen, wenn sie mich nur ins nächste Flugzeug zurück nach Amman setzten. Weil ich meine Mission nicht gefährden wollte, beschloss ich schließlich, zuerst in den Libanon zu reisen. Ich bestieg in Amman ein Flugzeug nach Beirut, wo man mir zu meiner Überraschung als Amerikaner die Einreise ohne Visum genehmigte. In Beirut traf ich mehrere Künstler, die ich bei früheren Besuchen schon kennen gelernt hatte. Nur Walid Sadek, von dem ich einige Arbeiten in Katalogen gesehen und bewundert hatte, traf ich zum ersten Mal. Doch hatte Walid Bedenken, bei der Ausstellung mitzumachen. Seine Zurückhaltung blieb auch nach unserem Zusammentreffen im Oktober in Berlin bestehen. Dann erhielt ich die unmissverständliche und enttäuschende Mitteilung, er werde nicht dabei sein. Unsere Gespräche in Berlin waren überaus interessant gewesen, und mir schien das von ihm vorgeschlagene Konzept äußerst anregend. Sein Vorschlag befasste sich mit bestimmten Problemen, die dem Projekt der Moderne nach wie vor anhaften und die im Zeichen eines behäbigen Multikulturalismus und einer erschöpften Postmoderne sogar noch bedrohlicher wirken. Walid machte dies an einer Inschrift fest, die am Eingang des Hauses der Kulturen der Welt angebracht ist: Es ist ein Ausspruch von Benjamin Franklin, in dem er das Heraufkommen einer Zeit beschwört, da ein Philosoph an jedem beliebigen Platz der Erde sagen kann: Dies ist mein Land. Für Walid bezogen sich diese Worte auf das ehrgeizige Projekt einer anbrechende Moderne, die trotz zahlreicher Widersprüche das Subjekt einer zukünftigen universalen Bürgergesellschaft postuliert. Franklins Worte zieren den Eingang zur Kongresshalle, jenes Gebäudes, das heute als Haus der Kulturen der Welt das Territorium eines verschwommenen Multikulturalismus markiert. Natürlich war die Kongresshalle in den 1950er-Jahren auch ein amerikanischer Vorposten an der Front des Kalten Krieges. Doch schwang für Walid in Franklins Worten noch mehr mit: ein sanfter Hinweis darauf, dass dieses Gebäude mit seinen deutschen Mitarbeitern, europäischen Gästen und Ausstellern sich nicht länger selbst tragen kann. Wir haben es mit dem Hinschwinden der Moderne als kohärentes Projekt zu tun, und es ist unsere Verantwortung, das zu Ende zu denken. Die Moderne, bemerkt Enrique Dussel, sei kein Phänomen Europas als ein unabhängiges System, sondern als Mittelpunkt . Indem wir dazu beitragen und daran verzweifeln stellt sie uns Gäste aus der Dritten Welt auf dieselbe Stufe mit unseren deutschen und europäischen Gastgebern. Sollten wir also nicht am besten, so Walids Vorschlag, das Gebäude für die Dauer der Ausstellung schließen und unsere Gedanken und Arbeiten außerhalb dieses Tempels präsentieren? In dieser Umgebung könnten wir erkennen, dass wir alle gleich sind, dass wir alle unseren Wert unter Beweis stellen müssen und versuchen, dieser Welt anzugehören und die ihr innewohnenden Werte einzufordern. In Beirut traf ich Akram Zaatari in der Arab Image Foundation, einer gemeinsam mit Walid Raad, Lara Baladi und einigen anderen Künstlern gegründeten Organisation. Raad und Zaatari hatten für die Foundation ein Projekt initiiert, das sich mit einer Sichtung hiesiger Fotoarchive aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befasst. Ihre Arbeit ist in vielerlei Hinsicht eine Pioniertat, denn sie durchforscht nicht nur diese fotografischen Archive und stellt Fragen über Fotografie und Abbild, Performance und Identität. Sie untersucht auch, welche Funktion das fotografische Porträt in der arabischen Welt als Ware, als Luxusobjekt, als Schmuck erfüllt, als Beschreibung von Individuen und Gruppen und als Einschreibung sozialer Identitäten. Raad und Zaatari präsentieren diese fotografische Praxis als Dokument einer sich abzeichnenden Identitätsbildung nach dem Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches und der Entstehung arabischer Nationalstaaten, andererseits auch als Beitrag zur Herausbildung neuer Auffassungen von Arbeit, Freizeit, Spiel, Bürgersinn, Gemeinschaft und Individualität . Die Arbeit Mapping Sitting besteht aus seriell ausgestellten Fotografien und zwei Videofilmen in Wiederholungsschleifen. Sie umfasst Gruppenfotos, die wie Landschaften aussehen, und so genannte Überraschungsfotografien. Dieses Projekt, das zurzeit durch Belgien und Deutschland tourt, zeigt eine ungewöhnliche Dimension und Art und Weise, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Es war mir auch sehr wichtig, Lamia Joreige aus dem Libanon in der Ausstellung zu haben. Nach mehreren Diskussionen war ich überzeugt, ein Beitrag von ihr würde belegen, was ich als signifikanten Trend in der Arbeit mehrerer libanesischer KünstlerInnen ihrer Generation ansehe: ein Verwischen der Trennlinie zwischen Realität und Einbildung, Fakt und Fiktion. Bei einem Treffen in Berlin schlug sie die Arbeit Objects of War vor. Das Projekt besteht aus einer Videodokumentation mit Interviews, die sie mit Menschen aus dem Libanon geführt hat. Lamia bat jeden ihrer Gesprächspartner, einen Gegenstand vorzustellen, der für ihre persönlichen Erlebnisse im Libanonkrieg steht. Einige dieser Gegenstände werden ausgestellt. Weiterhin schlug Lamia Somewhere, Someone vor, als inszenierte Version einer Geschichte, die sie auf der Grundlage von Interviews verfasst hat. Darin wollen fünf fiktive Charaktere den Mord an einem Mann während des Libanonkrieges aufklären. Zahlreiche Objekte, die in dieser Geschichte vorkommen, werden neben der Publikation gezeigt. In beiden Projekten wird es dem Betrachter unmöglich, zwischen den authentischen, wahren Anteilen und der künstlerischen, freien Erfindung zu unterscheiden. Donnerstag, 22. August '02
In Beirut musste ich mich bereits zusammenreißen, denn ich war innerlich schon mit den Schwierigkeiten meiner Syrienreise befasst. Brauchte ich ein Visum? Würden die syrischen Grenzbeamten herausfinden, dass ich aus Jerusalem stamme? Und wenn ja, wie würden sie reagieren? Wie sollte ich also unbehelligt über die Grenze kommen? Ich fragte Freunde in Beirut, ob ich einfach mit dem Taxi nach Damaskus fahren könne. Die meisten rieten mir dringend ab, da es viel zu riskant sei. Schließlich fiel mir ein, dass ich amerikanischer Staatsbürger bin. Warum sollte ich also nicht in der amerikanischen Botschaft in Beirut anrufen und um Auskunft bitten, welche offiziellen und inoffiziellen Gepflogenheiten bei der Einreise nach Syrien bestehen? Man sagte mir, dass ich in der Tat ein Visum bräuchte, ich in Beirut aber keines erhalten würde, weil es im Libanon gar keine syrische Botschaft gibt. Stattdessen müsste ich in ein nahe gelegenes neutrales Land wie etwa Zypern fliegen und dort ein syrisches Visum beschaffen. Aber nach Limassol zu fliegen und dort auf die Ausstellung eines Visums zu warten, war ein Risiko, das ich nicht eingehen konnte, schon weil es keinerlei Garantie gab, dass ich es überhaupt erhalten würde. Als letzter Ausweg blieb ein Anruf bei Omar Amiralay in Damaskus. Er ist ein bekannter syrischer Filmemacher und Kurator des Filmprogramms von DisORIENTation. Seine Antwort erfolgte prompt. Er schickte ein Taxi, das er selbst öfter benutzt. Nach all der angstvollen Unruhe wurde ich nun mit ausgesuchter Höflichkeit in meinem Beiruter Hotel abgeholt und vor dem Eingang meines Hotels in Damaskus wieder abgesetzt. Ich musste beim Grenzübergang noch nicht einmal aus meinem klimatisierten Wagen aussteigen. Der Fahrer kümmerte sich um alle Formalitäten. Es war mein erster Besuch in Syrien überhaupt. Ich war einigermaßen überwältigt, verwirrt auch (oder sollte ich sagen: desorientiert, um den Ausdruck enttäuscht zu vermeiden?). Hier war ich nun, in Damaskus, aber von dem legendären Charme und der Schönheit, die meine Eltern immer wieder gepriesen hatten, keine Spur. Sollten die vertrauten Bilder meiner Eltern bloße Einbildung gewesen sein? Gab es irgendeinen einheimischen Künstler, der diese Disparität zwischen dem Damaskus meiner Phantasie und dem wirklichen vielleicht eingefangen hätte? Ich traf ein paar Künstler und Galeristen, doch was ich sah, wirkte selbstreferenziell und anachronistisch. Würde ich eine Ausstellung kuratieren, die einen Überblick über alle künstlerischen Aktivitäten der Region geben wollte, hätte ich Künstler aus Damaskus eingeladen. Aber mein erklärtes Ziel ist es, neue Trends in der zeitgenössischen arabischen Kunst herauszuarbeiten und zu einer kohärenten Präsentation zu finden, welche die Arbeitsweise und die zugrunde liegenden konzeptuellen Rahmenbedingungen mitreflektiert. Die Entscheidung, ob Künstler und Arbeiten aufgenommen werden sollen oder nicht, erfolgt nach dem Kriterium der Kompatibilität ihrer ästhetischen Sprache mit der anderer Künstler, nicht aber nach der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land, das in der Ausstellung vertreten sein sollte. Ich wollte vor allem individuelle Handschriften versammeln, die ihre Positionen ausarbeiten und ihre Ideen und Gedanken artikulieren können. So bin ich letztlich über geopolitische und regionale Vorgaben hinausgegangen, die im Haus der Kulturen der Welt definiert worden waren, und habe Künstler eingeladen, die zwar familiäre oder verwandtschaftliche Verbindungen mit der Region haben, ansonsten aber auch anderswo leben. Ich verließ Damaskus traurig, aufgewühlt und mit leeren Händen. Montag, 26. August '02
Während der Rückreise nach Amman begann ich mich mit einem anderen Problem herumzuschlagen: Sollte ich mich in den Irak wagen, immerhin ein bedeutender arabischer Nachbarstaat mit maßgeblichem Anteil an der Geburt der modernen arabischen Kunst? Doch ich musste die Risiken sorgfältig abwägen. Alle, die ich dabei nach ihrer Meinung fragte, antworteten einhellig mit Nein. Zuspruch kam nur von Mitarbeitern der palästinensischen Botschaft in Bagdad; auf eigene Faust zu reisen, kam auf keinen Fall in Frage. Ein Einzelreisender mit amerikanischem Reisepass im Irak wäre zu dieser Zeit, als Ressentiments gegen Amerikaner einen Höhepunkt erreichten, tollkühn erschienen. Würde ich andererseits auf offiziellem Wege über die palästinensische Botschaft einreisen, hätte ich mich in Bagdad völlig der Kontrolle irakischer Kulturbehörden unterwerfen müssen. Ich vermutete, dass diese Behörden ihre eigenen Auffassungen, vermutlich sogar ihre eigenen Vorlieben durchsetzen wollten. Überdies durfte ich, auf dem Höhepunkt der Spannungen und angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Krieges, unter gar keinen Umständen Gefahr laufen, im Irak festzusitzen. Ich fuhr also nicht. Vor meiner Rückkehr nach Jerusalem stattete ich Ali Jabri noch einen Besuch ab. Diesmal war ich es, der ihm sein Leid klagte. Es war meine letzte Begegnung mit ihm. Sonntag, 8. September '02
In Palästina traf ich drei KünstlerInnen, die ich möglicherweise in die Ausstellung aufnehmen wollte. Die erste ist Ahlam Shibli. Sie lebt in Haifa, 150 km nördlich von Jerusalem. Haifa und Jerusalem liegen beide diesseits der so genannten Green Line (Demarkationslinie). So würden mir die Straßensperren und Kontrollen der israelischen Armee erspart bleiben, wie sie in der gesamten Westbank und im Gaza-Streifen errichtet worden sind. Man kann auf diesen Strecken tagelang festsitzen. Stattdessen gelangte ich mit meiner Frau und unserem kleinen Sohn unbehelligt in nur drei Stunden nach Haifa. Ahlam arbeitet mit Fotografie. Sie zeigte mir zwei Serien. Die erste dokumentiert ein trostloses und verlassenes Viertel, das allgemein als Wadi-as-Salib (Tal des Kreuzes) bekannt ist; ein Stadtteil, in dem einmal die reichsten palästinensischen Familien Haifas lebten. 1948 wurden die wehrlosen Anwohner von jüdischen Truppen mit Waffengewalt vertrieben. Heute stehen ihre geräumigen, gemauerten Häuser fast völlig leer. Im Gegensatz dazu zeigt die zweite Serie Aufnahmen des dicht bevölkerten Dorfes Arab El-Na'im. Dessen Bewohner sind zum Großteil Nachkommen der palästinensischen Flüchtlinge von 1948. Nachdem die Dörfer ihrer Vorfahren dem Erdboden gleichgemacht worden waren, fanden die Bewohner Unterschlupf im so genannten Arab El-Na'im. Die Siedlung wurde allerdings nach der israelischen Staatsgründung niemals anerkannt. Bis heute existiert sie offiziell nicht und ist auf keiner israelischen Landkarte verzeichnet. Man könnte in Ahlams Arbeit einen dokumentarischen Fotografieansatz sehen, der das Leiden und die fortwährende Diskriminierung der Palästinenser in ihrer Heimat festhält. Doch überschreiten Ahlams Bilder die bloße journalistische Reportage über die bedrückende Alltagsrealität. Durch die klare und treffsichere Motivwahl hält die Künstlerin ihre gesamte Arbeit in der Schwebe zwischen den Schrecken der politischen Wirklichkeit und der Absurdität aller Diskriminierung und verleiht ihrem Werk eine ungeheuer lebendige Dimension. Mit einer solchen Perspektive bietet Ahlam dem Betrachter, der täglich von Medienbildern und ihren Polarisierungen bestürmt wird, einen ungewohnten, nüchternen Blick. Die zweite Künstlerin, mit der ich mich beschäftigte, war Jumana Abboud. Sie lebt in Shafa-Amer, im Norden des Landes. Diesen Sommer kam sie allerdings zweimal pro Woche nach Jerusalem, um dort einen Kunstworkshop für Kinder zu geben, der von der Al-Ma'mal Foundation for Contemporary Art in Zusammenarbeit mit einem der Gemeindezentren aus der Altstadt organisiert wurde. So hatten Jumana und ich ausreichend Gelegenheit zu Diskussion darüber, was sie im Haus der Kulturen der Welt ausstellen würde. Sie war soeben von einer sechsmonatigen Residenz aus dem schweizerischen Aarau zurückgekehrt, wo sie drei Videoperformances erarbeitet hatte. Die erste, Edel Weiss Music Box, zeigt Jumana, wie sie zu einer hybriden Mixtur arabischer Rhythmen tanzt. Unter Bezug auf Eugène Delacroix' 1831 entstandenes Gemälde Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden formt die Performance aus dem Thema französischer Nationalismus eine persönliche Aussage. Statt der Trikolore schwenkt Jumana eine weiße Fahne. Der Rhythmus steigert sich bis zu beseelter Trance und legt sich dann wieder wie ein Meer nach dem Sturm. Auf der wörtlichen Ebene ist ihre zweite Videoperformance Al-Awda (Die Rückkehr) wie das Märchen von Hänsel und Gretel angelegt. Auf der übertragenen aber problematisiert Jumana ein heikles Thema: Die Palästinenser betrachten es als natürliches Anrecht und die Israelis verwerfen es als vollkommen inakzeptabel das Recht der Palästinenser auf Rückkehr in ihre angestammte Heimat. In Arabic Pins and Swiss Caps, Jumanas dritter Videoarbeit, widmet sie sich einer Art Kinderspiel: Sie klemmt sich Stecknadeln zwischen den Fingernagel und das Fleisch ihres Daumens. Das erfordert anfangs volle Aufmerksamkeit und fast klinische Konzentration; jede übereilte Bewegung würde zu Verletzung und Schmerzen führen. Doch nach und nach nimmt diese Beschäftigung den versunkenen Charakter eines kindlichen Zeitvertreibs an. Im Gegensatz zur Mühelosigkeit, mit der ich Ahlam Shibli in ihrer Wohnung besuchen und mich mit Jumana Abboud in meinem Büro treffen konnte, war die Begegnung mit Khalil Rabah, meinem langjährigen Freund und Kollegen in Ramallah, ein echtes Problem. Obwohl seine Wohnung nur acht Kilometer von meiner Jerusalemer Adresse entfernt liegt, kann er nicht in die Stadt. Alle Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen leben seit Monaten gleichsam im Belagerungszustand. Es ist ihnen strikt verboten, andere Landesteile aufzusuchen. Ich meinerseits konnte mir eine Reise zu ihm nicht leisten, weil die israelischen Straßensperren und Militärkontrollposten meine Acht-Kilometer-Reise auf einen gesamten mühevollen Tag ausgedehnt hätten. Nach einigen kurzen Treffen in Ramallah beschränkten wir uns auf telefonische Unterhaltungen. Auf der Grundlage von Ideen, die wir während dieser Telefonate entwickelten und die allesamt Fragen der individuellen und nationalen Identität berührten, wurde mit klar, dass Khalil sich auf das Thema Olivenbaum konzentrieren wollte. Er war inmitten alter Olivenhaine aufgewachsen, und dieses natürliche Merkmal der Landschaft ist von Palästinensern überall auf der Welt zu ihrem nationalen Symbol erkoren worden. Ich stellte mir Khalils Olive Tree als eine Art Laboratorium vor, in dem die Bedeutung des Olivenbaums untersucht, analysiert, dekonstruiert und wieder neu zusammengesetzt werden kann. Dieser Prozess würde sich zunächst auf den physischen Aspekt des Baumes beschränken, dabei aber auch die ihm anhaftenden kulturellen, geographischen, politischen und symbolischen Bedeutungsschichten offen legen. Der Betrachter würde in dem Baum somit nicht mehr nur eine dingliche Einheit sehen, bestehend aus knorrigem Stamm mit Zweigen und Blättern daran, sondern ihn auch als Quelle von Öl und Früchten wahrnehmen, auf dessen narbiger Rinde sich Staub, Insekten und Moos ansammeln. Diese Sichtweise würde dem Betrachter die Verwandlungen des Baumes selbst nahe bringen, seine territoriale Bedeutung und seine kulturelle Überhöhung. In einem solchen Rahmen erschiene der Baum als eigener Kosmos, als lebendiger Gegenstand mit politischen Konnotationen; er würde letzten Endes zum Material einer Kunst, mit deren Vokabular sich Präsentation und Repräsentation einer "nationalen Identität" artikulieren ließen.
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Autor: Jack Persekian
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