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DisORIENTation
Zeitgenössische arabische Künstler aus dem Nahen Osten
Die jordanische Wüste
Beduinen, Satellitenschüsseln und steinerne Spiegel

Amjad Nasser
24.07.2003
Erinnerung, Gewalt, Identität, Intifada, Konflikt, Wüste
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Amjad Nasser
Amjad Nasser
Mit seinen Reiseberichten knüpft der jordanische Lyriker und Journalist Amjad Nasser an ein in der arabischen Welt bis auf das 9. Jahrhundert zurückgehendes Genre an, welches er für die heutige arabische Literatur neu entdeckt und wieder belebt. Der Text "Die jordanische Wüste", aus dem hier ein Auszug folgt, entstand nach einem Besuch des Wahl-Londoners in seiner Heimat im Jahr 2000 und wurde erstmals in der Zeitschrift QANTARA des Institute du monde arabe in Paris in französischer Sprache veröffentlicht.

Früher brauchte ich nur die internationale Straße zu überqueren, auf der Omnibusse und voll beladene LKWs nach Jordanien kamen oder in den Irak und an den arabischen Golf fuhren, und schon hatte ich den ersten Schritt in eine Wüste gesetzt, in der man bis zur irakischen Grenze im Osten und der saudi-arabischen Grenze im Südosten weder Bäumen noch Menschen begegnet. Man stößt höchstens auf den Stützpunkt der jordanischen Luftwaffe von Mafraq und auf Einheiten der Armee oder der Wüstenstreitkräfte, die an bestimmten Punkten postiert sind, denn dieses Gebiet ist seit eh und je ein geschäftiger Schauplatz für Schmuggel. Das bedeutet aber keineswegs, dass man nicht auch auf Zeltplätze von Beduinen der Stammeszweige und -linien der ‘Anza, Ruwala oder Ahl al-Dabal trifft, die auf ihrer Wanderschaft von der syrischen Wüste bei Palmyra bis in den Nadjd in Saudi-Arabien diesen Streifen der jordanischen Wüste passieren. Es eröffnet sich eine Landschaft, die – soweit das Auge reicht – bedeckt ist mit vulkanischen Steinen wie steinernen Spiegeln. Dieses Gebiet erstreckt sich von Syrien bis in die Umgebung von Mafraq und trägt den Namen Al-Harra (Glutheißes Land), wahrscheinlich wegen der lodernden Sonnenstrahlen, die von dem glatten Vulkangestein reflektiert werden.
Dies war das Bild, das sich von Mafraq und seiner Umgebung in mein Gedächtnis eingraviert hatte, bevor ich Jordanien vor ungefähr 25 Jahren verließ. Heute jedoch existiert die internationale Straße so nicht mehr. Jene Straße war es gewesen, die Mafraq zu einem wahren Knotenpunkt und zur obligatorischen Haltestation für Reisende gemacht hatte, die, aus dem Norden und Osten kommend, Jordanien passiert hatten. Mit dieser Straße verschwanden auch die Lastwagen und Omnibusse, aus denen erschöpft Menschen gestiegen waren, um sich auf den schäbigen Rastplätzen zu stärken, oder denen Jungen eilig belegte Brote und kohlensäurehaltige Getränke aus lokaler Produktion in die Busse gebracht hatten, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, davon die Fliegen zu verscheuchen und den Staub von den Flaschen zu wischen. Verschwunden sind ebenso das Wirrwarr aus irakischem, syrischem und libanesischem Dialekt, die türkischen Fahrer mit ihren imposanten Schnauzbärten und die Wagen mit ausländischen Kennzeichen, über deren Herkunft die Jungen ausgiebig debattiert hatten.
Nun durchdringen Strom- und Telefonmaste, Schulen, medizinische Praxen und Polizeistationen die Wüste östlich der internationalen Straße, deren Verlauf völlig verändert worden ist, und bilden ein festes Netzwerk, aus dem es kein Loskommen mehr gibt. Es ist ein Netzwerk, ohne das die Menschen, die durch die Wüste ziehen oder sich ihren Wohnort um Brunnen und jahreszeitlich bedingte Wasserstellen einrichten, jahrhundertelang ausgekommen waren. In früheren Zeiten hatten die Beduinen nämlich ihre Beziehungen zur sozialen und natürlichen Umwelt durch andere Netzwerke organisiert. Sie hatten ihr besonderes Wissen, ihre traditionelle Heilkunde, die vor allem auf Kräutern beruhte, und eigene Gesetze, mit denen sie ihr Dasein regelten. Doch als im dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts der moderne Staat dort in Erscheinung trat, setzte er dem nomadischen Leben Schritt für Schritt ein Ende und kündigte den Schluss der Wüstenlegende an. Er band die Stämme, die sich bisher ausschließlich an eigene Bräuche und Bündnisse gehalten hatten, durch neue Abkommen und Systeme, derer sich die Beduinen nicht erwehren noch sich ihnen entziehen konnten. (...)
Die Wüste ist kein Ort mehr, an dem ein Mensch sich für immer verlieren und spurlos verschwinden kann – eine Wüste eben. Und die Beduinen, die einst von Ort zu Ort zogen und in „Zelten aus Haar“ lebten, sind keine wirklichen Beduinen mehr, seitdem Zement, Personenregister und Ämter sie untrennbar an bestimmte Flecken Erde binden. Seither haben sie Dörfer, Ackerland und Vieharten wie beispielsweise Kühe, die sie zu Zeiten ihres Nomadendaseins nie gehalten hatten. Inzwischen haben sie auch Friedhöfe, wohingegen sie früher ihre Toten an jedem beliebigen Ort beigesetzt haben, denn alles ist „Gottes Land“.
Beduinen, die in der jordanischen Wüste umherwandern, gibt es nach wie vor. Einige von ihnen sind befugt, drei Grenzen, die saudi-arabische, irakische und syrische, zu passieren und können so den Lebensstil fortsetzen, den sie vor der Einführung von Staatsgrenzen, Nationalitäten, administrativen Beschränkungen und Reisepässen geführt hatten. Manche Beduinen, die in dieser Gegend umherziehen, haben sogar mehr als nur eine Staatsangehörigkeit, verbergen dies aber mit der gleichen Klugheit, mit der sie die Herausforderungen der Wüste meistern. (...) Was für sie real zählt, ist die Tatsache, dass sie Beduinen und Angehörige eines bestimmten Stammes sind. (...)
Wer die jordanische Wüste besucht, darf nicht schockiert sein oder meinen, vor seinen Augen spiele sich ein surrealistisches Szenario ab, wenn er vor den Zeltplätzen der Nomaden amerikanische oder japanische Transportwagen erblickt und gen Himmel gerichtete Satellitenschüsseln, mit denen das Geschwätz arabischer TV-Kanäle empfangen wird, die wie Pilze aus dem Boden schießen. So ist es auch keineswegs sonderbar, dass in der Abgeschiedenheit dröhnende Generatoren die elektrischen Geräte, die sich die Beduinen wie ein verblüffendes Paradox zur Stille ihrer Umwelt anschaffen, mit Strom versorgen. Ebenso wenig ist es abwegig, einem Hirten zu begegnen, der statt einer Rohrflöte, mit der sich seine Ahnen in den langen, einsamen Tagen fernab von jeglicher menschlichen Gesellschaft aufheiterten, ein Handy bei sich trägt und mit Freunden telefoniert, Seite an Seite mit einer Kamelstute, einer Schafherde und Hunden, die einen aus einem Kilometer Entfernung ankläffen und – kaum hat man sich ihnen genähert – das Weite suchen.

Aus dem Arabischen von Leila Chammaa

Autor: Amjad Nasser