english version
Home/Virtuelles HKW/Dossiers/Details
Festival of Sacred Music
Begegnungen – Konzerte – Gespräche
Sakrale Musik als Gegenwärtigkeit
und Transzendenz

20.12.2002
Festival of Sacred Music
Buddhismus, Christentum, Harmonie, Islam, Judentum, Kommunikation, Liebe, Mystik, Ritual, Sufismus, Trance
Die Kunst religiöser Erfahrung
Die Seele der Welt
Quellen buddhistischen Wissens
Musik, Religion, Ritus und Mystik
in den traditionellen iranischen Kulturen I

Musik, Religion, Ritus und Mystik
in den traditionellen iranischen Kulturen II


Sakrale Musik ist heilige und heilende Musik. Sie hat sich in fast allen Kulturen entwickelt und war in früheren Kulturen Ausdruck eines vom Sakralen nahezu vollkommen durchdrungenen Lebens. Wodurch wird aber eine Musik sakral? Über die Intention des Komponisten, sofern es einen gibt, und über die Nutzung in einem sakralen Kontext, vor allem aber durch die konkrete Erfahrung des Musikers oder Sängers und des Zuhörers. Sakrale Musik aktualisiert damit den Ursprung des Religiösen, die Wahrnehmung einer das Eigene überschreitenden Welt.

Häufig beinhaltet die Musik Namen, die der göttlichen Wirklichkeit gegeben werden: der Name als Klangrepräsentation Gottes. Diese Sichtweise findet sich in allen großen Weltreligionen. Hinduismus, Buddhismus und Islam kennen viele Texte, die nur aus der Aufzählung göttlicher Namen und Eigenschaften bestehen. Auch die jüdisch-christlichen Traditionen kennen zahlreiche Benennungen Gottes: Er ist der Vater, der Allmächtige, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Gütige, der Zornige, der Herr. Über den Namen hat der Mensch Zugang zur göttlichen Wirklichkeit. Das stete Wiederholen ist dabei meditative Vertiefung und andächtige Versenkung. Mit dem Erklingen des göttlichen Namens ist diese Musik bereits am Ziel. Denn sie ist reines Gebet, ist Lobpreis und Gegenwart des Göttlichen in der Welt. Zerrissenheit, Kampf und Leiden werden in der Begegnung mit sakraler Musik transzendiert.

Neben den Inhalten gibt es rein musikalische Mittel, die sakrale Musik kennzeichnen können. Klänge entstehen in der Natur und durch den Menschen. Wenn in der Weltwahrnehmung die Natur ein Bote, ein Ausdruck göttlicher Kräfte und Mächte ist oder die Natur sogar selbst als heilig betrachtet wird, dann sind auch ihre Klänge göttlich. Der Zuhörer kann diese Weltmusik nur dann wahrnehmen, wenn sie nicht übertönt wird und wenn er in den Zustand der Zeitvergessenheit taucht. Ein Zustand, in dem die Dinge anfangen zu sprechen und jeder Ton zu einer Klangoffenbarung wird. Menschen haben zu allen Zeiten mit den von ihnen erzeugten Klängen den Kosmos durch sich durchströmen lassen, haben seinen Rhythmus und seine Harmonien aufgenommen.

Heute hat sich der Klang, der einst vom Menschen ausging, von seinem Urheber emanzipiert und abgekoppelt. In diesem selbst geschaffenen Klangchaos verliert der Mensch die Fähigkeit, die ursprünglichen Töne und Klänge wahrzunehmen. Sakrale Musik hat etwas von der Urmusik, deren Klang nicht immer als ästhetisch „schön“ wahrgenommen werden muss. Sie kann auch jenseits der Emotionen beheimatet sein und archetypische Bewusstseinsmuster aktivieren. Insofern fordert sakrale Musik den Zuhörer heraus, er muss sich in besonderer Weise auf sie einlassen oder sie bleibt ihm in ihrem Wesen verschlossen. Sie kann im eigentlichen Sinne nicht passiv konsumiert werden, denn sie ist bedingt durch die aktive Kommunion von Klang und Hörer. Damit entzieht sich diese Musik konventionellen Hörgewohnheiten und provoziert Fragen an das eigene Sein. Durch Selbstvergessenheit im Akt der Musik kann der Mithörer ein Teil des Prozesses sakraler Musik werden. Dieser „Flow“ bedeutet psychologisch ein Heraustreten aus dem Wachbewusstsein und Eintauchen in die Wesensmitte, das Selbst. Dort kann eine religiöse Erfahrung stattfinden, die Begegnung etwa mit dem Schutzgeist, mit Jesus Christus oder dem Heiligen Geist, mit dem Bodhisattva Avalokiteshvara oder einfach dem Geliebten (Allah), an den der Sufi sein Herz verloren hat.

Sakrale Musik manifestiert sich letztlich aber auch als Spiel. Das Spiel als Handeln ohne Ziel ist Feiern. In der sakralen Musik feiert die Schöpfung den Schöpfer und der Schöpfer die Schöpfung. Sie ist Teil des ewigen Wechselspiels, und im Erklingen und Verebben der Klänge zeigt sich das ewige Spiel von Werden und Vergehen. Sakrale Musik ist selbst ein Teil des Kultus, eines Handelns nach Regeln, deren Sinn und Funktion sich dem modernen, rationalistisch geprägten Bewusstsein kaum noch erschließt. Das kultische Erleben ist einer durch Hektik und Effektivität bestimmten modernen Lebensrealität diametral entgegengesetzt. Rituelles Handeln beinhaltet die Kunst der Langsamkeit, die in der westlichen Welt erst schrittweise wieder als Wert anerkannt wird. Die rituelle kultische Handlung zeichnet sich andererseits durch die absolute Gegenwärtigkeit des Priesters im Hier und Jetzt aus. Nur so kann das Ritual lebendig und zu einer existentiellen Erfahrung werden.

Musik erfahren wir mit unseren Sinnen, sie wirkt, auch wenn wir den Text nicht verstehen. Insofern kann sie ein wichtiges Element der Annäherung und des gegenseitigen Verstehens sein. Dies zu erleben ermöglicht das Festival of Sacred Music. Der Dialog hat erst begonnen.


Autor: Martin Mittwede, Privatdozent am Fachgebiet Religionswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main