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Festival of Sacred Music
Begegnungen – Konzerte – Gespräche
Die Seele der Welt
Begegnungen mit sakraler Musik
20.12.2002
Festival of Sacred Music
Buddhismus, Christentum, Harmonie, Islam, Judentum, Kommunikation, Liebe, Mystik, Ritual, Sufismus, Trance
Die Kunst religiöser Erfahrung
Sakrale Musik als Gegenwärtigkeit
und Transzendenz

Quellen buddhistischen Wissens
Musik, Religion, Ritus und Mystik
in den traditionellen iranischen Kulturen I

Musik, Religion, Ritus und Mystik
in den traditionellen iranischen Kulturen II


Angesichts der Satellitenbilder und neuen Kommunikationstechniken können wir uns heute leicht der Illusion hingeben, daß wir unter der Herrschaft eines einzigen „Bildes“, einer Monokultur stehen. Die Realität entspricht dem bekanntlich nicht. Sicher, die Verbreitung einer bestimmten Kulturform namens „McWorld“ bis in die hintersten Winkel der Erde ist unbestreitbar. Das ändert aber nichts daran, daß die Welt nach wie vor außerordentlich reich an Kulturen und Lebensweisen ist.

Hat man das mediale Flimmern einmal durchdrungen, so zeigen sich diese Reichtümer im Osten gleichermaßen wie im Westen. Die Launen der Geschichte bewirken zwar, daß sie unterschiedlich aktiv, verborgen oder auch an den Rand gedrängt sind. Und dennoch: Mit unsichtbaren Fäden und über alle Grenzen zwischen den geistlichen Tradition hinaus weben sie an etwas, das man „die Seele der Welt“ nennen könnte.

Diese Schwingung für uns erfahrbar zu machen – genau darin liegt die Bedeutung der sakralen Musik. Ihre Tonalitäten und Klangfarben sind zugleich einzigartig und universell. Das ist auch das Wichtigste, was die heutige Welt aus diesem nur scheinbar weit entrückten und nach wie vor lebendigen Erbe lernen kann: die Einigkeit in der Verschiedenheit. Es ist nicht einmal nötig, daraus einen Glaubensgrundsatz zu machen. Denn die Einigkeit in der Verschiedenheit ist für alle erfahrbar, die Teil irgendeines Landes, einer Kultur und einer Tradition sind, und die jene unsichtbaren Fäden aufnehmen können, weil sie für ihren genius loci empfänglich sind.

Die Fähigkeit des Reisens – und es ist tatsächlich möglich, kreuz und quer durch die Welt zu fahren, ohne jemals gereist zu sein – erlaubt uns eine Begegnung mit sakraler Musik an ein- und dem selben Ort zu entwickeln. In wenigen Tagen können wir uns hier vom enormen Reichtum der geistlichen Traditionen in aller Welt überzeugen. Hier beginnt man zu verstehen, daß sich die sakrale Musik in unserem Inneren bricht und entfaltet wie der Lichtstrahl in einem Prisma. Ihre Absicht ist, ein mächtiges, wenn auch oft vergessenes Gefühl für Schönheit, Liebe und Mitgefühl in uns zu erwecken – also ein Gefühl, ohne dessen Lebendigkeit keine Welt existieren kann.

Eine Begegnung mit sakraler Musik bewahrt uns vor den Fallstricken der Sprache. Es gibt nichts zu beweisen und niemanden zu überzeugen. Die sakrale Musik lädt uns schlicht ein, den besten Weg zum Verständnis einer anderen Kultur zu gehen: diese kennen zu lernen, zu hören, zu entdecken, ihre heimliche innere Melodie zu erfassen. Und zu erfahren, wie diese Melodie sich auf allen Ebenen des Lebens wiederfindet, wie sie in den einfachsten Gesten des Alltags wohnt und diesen ihren Sinn gibt. Wie sie die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Suche nach Wissen und Weisheit gestaltet. Eine Kultur, die diese innere Dimension verlöre, würde absterben und jeden Sinn einbüßen. Sie könnte vielleicht noch ein Gegenstand des Konsums oder eine ideologische Waffe sein, aber sie könnte nie dazu dienen, ein menschliches Wesen auf dem Weg des Lebens zu begleiten.

Einen solchen inneren Sinn und eine derartige Weltenseele gilt es heute der so genannten Globalisierung zu verleihen, wenn diese auch nur irgendeinen Weg der Weisheit beschreiten soll.

Doch was versteht man nun konkret unter „sakraler Musik“?

Musik, oder zumindest Gesang, ist Teil jeder geistlichen Tradition der Welt. Sie dient als Mittel des Ritus oder der Beschwörung, und sie folgt zugleich ihrer eigenen Entwicklung. Der Begriff „Tradition“ ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig, weil er nicht nur den historischen Charakter jeder sakralen musikalischen Kultur unterstreicht, also ihre Weitergabe von einer Generation zur anderen, sondern auch die kollektive oder gemeinschaftliche Form dieser Weitergabe in der Kommunion.

Diese Kommunion entsteht zwischen dem Musiker und seinen Zuhörern, und noch mehr zwischen einer heiligen oder transzendenten Dimension der Musik und dem menschlichen Hören. Der Musiker ist, ebenso wie die Musik selbst, nichts als ein Medium, durch das die Erleuchtung hindurchgeht. Die musikalische Sprache wird zur Interpretin eines spirituellen Inhalts, der nicht festzuhalten ist und jenseits der hörbaren Töne liegt. Die Kraft und Schönheit einer sakralen Musik kommt in dem Maße zum Ausdruck,wie sie diesen universellen göttlichen Sinn transportieren kann. In verschiedenen Modalitäten und lokalen Färbungen zeigt jede sakrale Musik ihr eigenes Angesicht dieser Universalität. Ein Festival der sakralen Musiken dieser Welt wird so zum Rahmen einer Zusammenkunft, die anders kaum denkbar, geschweige denn realisierbar wäre.

Man könnte sich nun fragen, warum die traditionellen, von Generation zu Generation „übertragenen“ Musiken (nach dem lateinischen Verb „tradere“) nie eintönig werden? Hier ist es wichtig, die Bedeutung des Wortes „Tradition“ im religiösen Zusammenhang genau zu erfassen. Denn die sakrale Musik ist eine besonderen Form der Inspiration. Sie ist niemals Selbstzweck, sondern immer nur Medium einer göttlichen Eingebung, in dem sich ausdrückt, was zum Beispiel die Sufis „Häl“ (einen inneren Zustand) oder die Inder „Rasâ“ genannt haben. Sakrale Musik hat eine beschwörende Funktion. Sie erzeugt in manchen Fällen eine Ekstase, der sich der ausführende Musiker hingibt. Er (oder sie) ist dann von jenem „Häl“ besessen, der dem musikalischen Moment erst seine vielen Bedeutungen, seine Lebendigkeit und einzigartige Wahrheit verleiht.

Auch wenn die musikalische Ausführung theoretisch die gleiche sein könnte, so wäre dennoch jeder musikalische Moment einzigartig. Das gilt für rituelle oder liturgische Musikformen, deren Gleichförmigkeit von sich aus durch die regelmäßige Wiederholung ein beschwörendes Moment und eine Öffnung zum Heiligen erzeugt – also etwa in den musikalischen Traditionen des tibetanischen Buddhismus. Es gilt um so mehr für andere Musikformen wie den indischen „Raga“ oder die arabischen „Maqamat“, bei denen Improvisation und daher auch Variation von Bedeutung sind. Die Sufis sprechen in diesem Zusammenhang von einer Verbindung der Dimension der Strenge („Majestät“) mit jener der Eingebung („Schönheit“). In den Momenten reiner Improvisation sind die Strukturen so fein und die Schönheit als göttliches Attribut so gegenwärtig, daß daraus eine Kommunion ohne „wenn“ und „aber“ entstehen kann. Es ist ein Moment, in dem sich der Geist von seinen üblichen Beschränkungen befreit wie ein Vogel aus seinem Käfig.

Es muß ein solcher Augenblick der Hingabe oder ekstatischen Trance gewesen sein, als Pythagoras und seine Schüler die gewöhnlich unhörbare Musik der Sphären vernahmen und die Vorstellung der Weltenharmonie (im wörtlichen Sinn) entwickelten. Diesen pythagoräischen Gedanken übernahmen die Ikhwân as Safâ („Brüder der Reinheit“), eine ismaelitische Bewegung des 10. Jahrhunderts n. Chr. weitgehend. Er bildet unter anderem die Grundlage für die symbolische Choreographie der „kreisenden Derwische“, in der sich die Tänzer wie Himmelskörper im eigenen Tempo drehen und zugleich alle gemeinsam um einen fest stehenden Mittelpunkt kreisen.

Die Vorstellung, daß sakrale Musik nichts anderes ist (oder sein will) als der Widerhall einer himmlischen Musik, ist in vielen Traditionen verankert. Johannes Chrysostomus sagte im vierten Jahrhundert n. Chr.: „Unser Gesang ist nur ein Echo und eine Nachahmung des Gesangs der Engel. Die Musik wurde im Himmel geschaffen. Rund um mich und über mir singen die Engel (...) Der Sänger erfährt seine Eingebung von oben.“

Ein anderer Prototyp der biblischen und koranischen heiligen Gesänge ist jener des Propheten David. Seine Lobgesänge, heißt es in den heiligen Schriften, traten in tiefe Resonanz mit denen der Natur ein. Heiliger Gesang und heilige Musik sollen in uns jene innere Wahrnehmung ansprechen, die es uns erlaubt, ein tiefes Einverständnis mit dem Kosmos zu finden und das Geheimnis seiner wesenhaften Einheit zu verstehen. Die Beduinen der Wüste gelangen zu diesem Einverständnis in den Gesängen des „Hidâ“. Es sind Karawanengesänge, nach deren schnelleren oder langsameren Rhythmen selbst das Kamel an der Spitze des Zuges seinen Gang ausrichtet.

Die Traditionen heiliger Gesänge und Musiken operieren auf verschiedenen Ebenen und ermöglichen es jedem, zu einem ebenso subtilen wie tiefen Selbstverständnis zu gelangen. Sie umspannen die Geschichte der Menschheit und ihre verschiedenen kulturellen Färbungen. Sie regen zur eigenen Suche und zum Streben nach Transzendenz an. Sie ermöglichen die Kommunion durch ein von allen geteiltes Gefühl, das gleichzeitig so universell ist, keine anderen Kulturen von der Teilhabe auszuschließen. Sie gestatten es, die Schwingungen der geheimen Seele des Kosmos zu empfangen.

Der arabische neoplatonische Philosoph und Musikologe Al Kindi hat deshalb den vier Saiten der traditionellen Laute, deren jede einem der vier Naturelemente entsprach, eine fünfte hinzu gefügt – die Saite der Seele. In der semitischen Tradition gilt die sakrale Musik als Erinnerung oder Gedächtnis dieser Seele. Die Klangfarben der Stimme, der Laute oder der Flöte wecken in ihr die sehnsüchtige Erinnerung an ihre ursprüngliche Freiheit. Dieser Mythos der Rückkehr (im ursprünglichen Sinn von „Mysterium“) ist auch der geheime Antrieb der Negro Spirituals und Gospel Songs, die zugleich den Schmerz der Trennung und die vorweg genommene Freude über die wieder gewonnene Freiheit beschwören.

Nicht zuletzt erwecken und sammeln die sakralen Gesänge und Musiken im Herzen das Feuer oder den heiligen Nektar der geistlichen Liebe. Sie lassen die Tränen fließen oder das Herz vor Freude springen („Enthusiasmus“ bedeutet ursprünglich „Gott ist in uns“), und sie wecken in der Seele, wie im biblischen „Hohelied Salomos“, das mystische Begehren nach der Einheit zwischen Liebenden und Geliebten.

(Übersetzung aus dem Französischen von Herwig Engelmann)


Autor: Faouzi Skali, „Fes Festival des musiques sacrées du monde“ Marokko