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RASALÎLA - Spiel der Gefühle
Indische Virtuosen treffen aus das Ensemble Modern
"Die Zukunft der Musik ist eine planetare"
Interview mit Sandeep Bhagwati
08.10.2003
Globalisierung, Kommunikation, Moderne, Tradition
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Ein Gespräch mit Kurator Sandeep Bhagwati über Hintergründe und Konzeption der Reihe "RASALÎLA"

Gabriele Stiller-Kern: Während die klassische indische Musik für viele Europäer eine große Faszination ausübt, interessieren sich indische Musiker normalerweise weder für die klassische noch für die Neue westliche Musik. Warum?

Sandeep Bhagwati: In Indien gibt es überhaupt keine Infrastruktur für westliche Musik. Es gibt weder Orchester noch einen geregelten Konzertbetrieb. Und wenn doch einmal westliche Musik aufgeführt wird, ist das Programm sehr konservativ, viel konservativer als hier - Brahms wird schon als Wagnis empfunden.

Die westliche Musik hat sich ja über die englische Kolonialherrschaft nach Indien eingeschlichen. Damals gab es ein geregeltes Konzertleben; Mumbai hatte sogar ein Opernhaus. In der Gegenwart ist klassische westliche Musik ausschließlich eine Kunst der besser gestellten indischen Kreise, eine reine Diplomatenkunst. Und indische Musiker, die im Westen touren, haben hier so enge Zeitpläne, dass sie überhaupt keine Zeit dafür haben, Konzerte zu besuchen. Sie haben weder Erfahrung mit europäischer klassischer Musik noch mit westlicher Avantgardemusik.

In der populären Musik sieht es nicht wesentlich anders aus. Die Gruppe "Shakti" z.B. ist zwar auch in Indien interessant, aber nur deshalb, weil Zakir Hussain im Westen so berühmt wurde und John McLaughlin eine Jazz-Legende ist. Und - es ist eine Musik, die in Indien vor allem in den gesellschaftlichen Reservaten jener reichen Inder gehört wird, die in den USA studiert und gelebt haben.

G. S.: Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Wie offen sind westliche Musiker für die klassische Musik außereuropäischer Kulturen?

S. B.: Während die klassischen Musiken der Welt gegenüber der westlichen Kultur allzu oft in konservativer Defensive verharren, befindet sich der Westen in einer Art offensiver Umarmung der außereuropäischen Musikkulturen. Es ist heute für jeden westlichen Komponisten - zumindest der Avantgardemusik - selbstverständlich, etwas über balinesische, indische oder japanische klassische Musik zu wissen. Bei deren strukturellen Techniken und ästhetischen Vorstellungen kennt man sich ziemlich gut aus: es gibt im Westen sehr viele fundierte Bücher über diese Musik. Umgekehrt ist der Weg sehr schwierig.

Allerdings muss man sich auch vor Augen führen, dass Musiker wie z.B. Ravi Shankar, die im Westen größte Anerkennung als Vermittler genießen, mit ihren kulturüberschreitenden Projekten das indische Publikum nicht überzeugen. Bei seinen Experimenten mit Yehudi Menuhin, in seinen Sitarkonzerten mit Zubin Mehta spielt er für diese Hörer nicht brillant genug Sitar. Für westliche Ohren wiederum klingt der Orchestersatz erbärmlich.

Wenn z.B. Charlie Mariano mit dem Kanataka College of Percussion spielt, dann spielt das Kanataka College of Percussion genau das, was es immer spielt - nur halt mit halber Kraft, damit der arme Charlie noch mitkommt. Dieses Muster wollte ich durchbrechen. Ich wollte, dass die indischen Musiker einmal nicht machen können, was sie immer machen, sondern dass sie gezwungen sind, sich auch mit der westlichen Kultur auseinanderzusetzen.

Das müssen sie aber dann, wenn sie für westliche Musiker komponieren, ohne selber mitspielen zu dürfen. So lautete denn auch meine Herausforderung - mein Fehdehandschuh an die East-meets-West-Problematik. Aus meiner Sicht gab es bisher keinen Austausch, von dem ich sagen könnte, hier sind die Möglichkeiten der westlichen Musikkultur aber auch die Möglichkeiten der indischen Musikkultur ganz ausgereizt. In meinem Projekt ist das so. ALLE arbeiten hier am Limit. Das hat mich interessiert.

G. S.: Sie sind der künstlerische Leiter diese Projekts. Was hat sie dazu motiviert?

S. B.: Der Anstoß zu diesem Projekt kam vom Haus der Kulturen der Welt. Ich wurde gefragt, ob es in Indien Neue Musik gibt. Aber Avantgardemusik, so wie wir sie uns vorstellen, gibt es in Indien nicht. Weil indische Musik ihre Tradition nicht vergessen hat. Neue Musik ist ja immer auch ein Traditionsbruch - und den hat es in Indien so nicht gegeben. Als Komponist, der sowohl in der indischen als auch in der europäischen Klassik aufgewachsen ist, habe ich aber schon immer eine Diskrepanz zwischen der Unwissenheit auf indischer Seite und dem großen Interesse auf westlicher Seite empfunden. Dieses Projekt gab mir die Gelegenheit, eine Brücke zu bauen. Ich habe in Indien sehr lange gesucht, bis ich Musiker gefunden habe, die an solch einem Austausch interessiert sind. Schließlich stieß ich auf ein paar in Indien sehr berühmte Musiker, die von sich aus schon einige Schritte weg von der Tradition gegangen waren. Und darum ging es mir: um Künstler, die das Interesse verspüren, die Tradition neu zu deuten. Das, was mir vorschwebte, geht eben nur mit erstrangigen Leuten, die über die Tradition hinaussehen können, weil sie deren Stärken genau kennen - und vor deren Schwächen keine Angst haben.

Eine große Stärke dieses Projektes liegt für mich auch darin, dass es den Musikern auch zeitlich den notwendigen Rahmen gibt, der erforderlich ist, um wirklich ernsthaft voneinander lernen und miteinander arbeiten zu können. Wir haben jetzt zwei Jahre lang miteinander gearbeitet. Meine ersten langen Gespräche mit den indischen Musikern begannen im Januar 2001, unser erster Workshop folgte im Januar 2002, im Mai dieses Jahres kamen alle nach Frankfurt. Ein letzter Workshop findet im Oktober in Berlin statt. In den Phasen dazwischen lagen hunderte von Telefonaten, Emails, eine Workshopwoche mit viel Kompositionstheorie und präzisen ästhetischen Auseinandersetzungen.

G. S.: Bei dem ersten Workshop haben Mitglieder des Ensemble Modern den indischen Musikern Beispiele Neuer Musik vorgespielt. Wie haben die indischen Musiker darauf reagiert?

S. B.: Was alle verblüfft hat, war, dass die indischen Musiker alles, was ein europäisches Publikum normalerweise befremdlich findet, kaum der Rede wert fanden: Die Dissonanzen zum Beispiel haben sie überhaupt nicht gestört - weil sie nicht in Harmonien denken. Und auch die ungewöhnlichen Spieltechniken haben sie nicht schockiert. Was die indischen Musiker dagegen wirklich befremdet hat, war, die Kürze der Stücke. "Was sind schon 5 oder 10 Minuten für so viele schöne Ideen", sagte einer zu mir nach einem Werk von Webern.

G. S.: Wo gab es Anknüpfungspunkte für die indischen Musiker?

Sie konnten sehr gut einsteigen in den Bereichen, die sie sowieso gut beherrschen, nämlich Melodik und Rhythmik. Und sie sind sofort angesprungen auf experimentelle Klangtechniken der Instrumente. Das ist in der westlichen Avantgarde ja auch ein wesentliches Thema.

G. S.: An welchen Punkten konnten die Musiker des Ensemble Modern auf die indische Musik einsteigen?

S. B.: Da die indische Musik im Westen relativ bekannt ist, habe ich auf diesen Punkt nicht so viel Wert gelegt. Mir kam es vor allem darauf an, die indischen Musiker an die westliche Musik heranzuführen. Aber dennoch: die Musiker des Ensemble Modern haben in Indien klassische Konzerte besucht, um eine solche Live-Komposition in ganzer Länge hören zu können. Was ihnen darüber hinaus sehr imponiert hat, war die Feinheit des indischen Tonhörens, die Abstufung der Töne in der Oktave, die Behandlung der Mikrotöne. Und sie haben sich sehr für die Idiomatik der indischen Musik interessiert, dafür, wie die Phrasen gebaut sind und für die Übergänge von einem Ton zum nächsten.

G. S.: Die indischen Musiker haben für das Ensemble Modern komponiert. Nun sind westliche Musiker es ja gewohnt, ihre Kompositionen niederzuschreiben. In der indischen Musik ist das nicht üblich. Wie haben Sie dieses Problem gelöst?

S. B.: Es gibt schon so etwas wie Notationen in der indischen Musik. Aber das sind eher Gedächtnisstützen und keine präzisen Spielanweisungen. Trotzdem haben wir sie verwendet und zum Teil in westliche Notenschrift übertragen. Die Musiker des Ensemble Modern konnten auf diese Weise zumindest die Grundlinien eines Stückes reproduzieren.

Darüber hinaus habe ich den indischen Musikern verschiedene Modelle westlicher Notation vorgestellt, die nicht klassisch sind. In der Neuen Musik gibt es sehr viele verschiedene Arten und Weisen, in denen man notieren kann. Die Interpreten der Neuen Musik sind daran gewöhnt, dass jeder Komponist mit einer individuellen Notationsform arbeiten kann. Ich habe die indischer Musiker dazu ermutigt, eigene Notationsformen zu entwickeln. Die Ergebnisse waren absolut faszinierend. Uday Bhawalkar z.B., der bisher am wenigsten Kontakt mit der westlichen Musik hatte, erkannte die Chance der Notation sofort. Er hat in mühevoller Kleinarbeit eine Notation erstellt, die für seine Musik präziser ist als jede westliche Notation.

Schließlich haben wir auch viel mit Tonaufnahmen gearbeitet. Das ist zwar eine technische Notation, aber eine durchaus gültige.

G. S.: Sie haben in ihrem Projekt nicht nur die Perspektiven der indischen und der deutschen Musiker einbezogen, sondern auch eine dritte Perspektive: die der Komponisten, die in der indischen klassischen Musik ausgebildet sind, heute aber in der westlichen Tradition arbeiten und hier oder in den USA leben.

Diaspora-Komponisten aus jeder Kultur, aber besonders diejenigen aus der indischen - sie steht ja zusammen mit den klassischen Musiken des Mittleren Ostens auf besondere Weise abseits jener Strömung von internationalen Neuen Kunstmusik, wie sie vom Westen, Japan, Korea und China geprägt wird - haben immer dasselbe Problem: Anerkennung finden sie hier nur, wenn sie die Kultur ihrer Herkunft in einer für das westliche Publikum aufbereiteten Form repräsentieren und reflektieren.

Auf diesen Zwiespalt findet jeder Komponist eine eigene Antwort. Einige reagieren mit totaler Anpassung, wie z.B. Naresh Sohal. Er schreibt einfach post-romantische Orchestermusik. Param Vir dagegen hat Erfolg mit seiner Art, die philosophischen Klischees der westlichen Kultur über Indien zu bedienen, ohne die musikalischen Klischees dabei überhaupt zu berühren. Seine Musik klingt vollkommen westlich, aber seine Themen und Titel sind vorwiegend indisch. Klarenz Barlow wiederum geht einen ganz anderen Weg. Er begießt Inder und Westler gleichermaßen mit Spott und münzt jedes Klischee gern zu einem Stück um. Sein Zugang zu diesem Kulturkonflikt ist ein satirischer. Und schließlich Shirish Korde, der eine ganz andere Biografie hat. Er wurde als Inder in Afrika geboren und lebt jetzt in den USA. Er sagt: "Ich kann genauso japanisch denken, wie indisch, afrikanisch oder europäisch. In meiner Musik versuche ich, all das, was mir wichtig erscheint, miteinander zu verbinden."

G.S.: In welchem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext sehen sie Ihr Projekt?

S. B.: Natürlich ist es ein elitäres Projekt. Es ist eine musikalische Begegnung, bei der einige der besten Musiker aus zwei Musikkulturen aufeinander treffen, die in ihren jeweiligen Gesellschaften ebenfalls einen elitären Status haben. Der entscheidende Unterschied zu allen East meets West-Projekten, die ich bisher kennen gelernt habe, ist eben, dass hier nicht nur ein Transfer vom Osten in den Westen stattfindet, sondern auch ein Transfer vom Westen in den Osten. Der Westen saugt stets sehr viel auf und ist - auf durchaus aggressive Weise - sehr offen. Die anderen Kulturen sind defensiv und verhalten sich eher geschlossen. Sie lernen dabei aber nichts.

G. S.: Wie schätzen Sie die Chancen dafür ein, dass dieser Austausch auch in die Zukunft wirkt?

S. B.: Ich habe gerade erfahren, dass die indischen Musiker jedem Kollegen von dem Projekt erzählen und sagen: "Es gibt so tolle Sachen in der westlichen Neuen Musik, das müssen wir in Indien umsetzen." Sie leihen sich beim Goethe-Institut CDs aus, die dort schon seit Jahren liegen und nie ausgeliehen wurden. Ich hoffe und werde das meinige dazu tun, dass dieses Interesse nachhaltig ist. Bis dahin war auf diesem Gebiet einfach nichts.

Fest steht, dass all dies nur ein Stein ist, den wir in den Ozean der indischen Musiken werfen, in der Hoffnung auf einen wachsenden Kreis von Wellen. Ich bin kein Nationalist. Ob Indien oder der Westen - unsere Musiken entwickeln sich ständig. Und es ist besser, sie kennen sich gut. Die Zukunft der Musik ist eine planetare, die aus keiner Tradition alleine kommen kann. Es ist Zeit, dass die Musiken der Welt den Westen kompositionstechnisch, ökonomisch und ästhetisch ausplündern, um ebenfalls eine starke Stimme in dieser planetaren Polyphonie spielen zu können.


Autor: Das Interview führte Gabriele Stiller-Kern / Sandeep Bhagwati spoke to Gabriele Stiller-Kern

Kontakt: Gabriele Stiller-Kern stiller.kern@t-online.de

Text
Sandeep Bhagwati über seine Komposition "Rasas"
Audio "Rasas" Chaplin